Elfenmeer: Roman (German Edition)
Tatendrang, das Leben hatte noch keine Spuren auf ihm hinterlassen. Einst waren sie Freunde gewesen …
Plötzlich drehte er den Kopf zur Seite, und seine anthrazitfarbenen Augen sahen sie mit ehrlicher Zärtlichkeit an. Wo Arn stets die Wahrheit gesagt hatte, taten es Valuars Augen genauso.
»Komm.« Er hielt ihr seine Hand entgegen, wartete und bangte in deutlicher Anspannung.
Marinel atmete tief ein. Sie blickte auf seine große Hand mit den langen, schlanken Fingern, und ihr kam in den Sinn, was Arn gesagt hatte. Im Palastgarten hatte er gemeint, er und sie wären gleich. Sie wären beide von Bitterkeit und Hass erfüllt. Marinel hatte gesehen, wohin Arn dieser Weg getrieben hatte, und das war das Letzte, was sie wollte. Sie straffte ihre Schultern, überhörte die Stimme, die ihr sagte, dass Valuar ihr alles genommen hatte, und legte ihre Hand in die seinige.
Die Überraschung stand ihm ins Gesicht geschrieben, und erst nach ein paar Augenblicken schloss er ganz langsam seine Finger um die ihrigen. Ein befreites Lächeln erschien auf seinem Gesicht.
Seite an Seite gingen sie zurück in den Palasthof, als Valuar sie plötzlich losließ und etwas aus einer eingenähten Tasche seines Umhangs nahm. Doch noch ehe er etwas sagen konnte, platzte Marinel mit ihren Gedanken heraus:
»Ich werde es nie vergessen, Valuar.«
Er hielt inne, und seine hellen Augenbrauen zogen sich zusammen. »Was …?«
»Ich werde nie vergessen, was du mir angetan hast. Ich will nur nicht …« Sie ließ die Schultern sinken. »Ich will dich einfach nicht mehr hassen.«
Er nickte zaghaft, während er sie wortlos betrachtete.
»Das Geld werde ich dir zurückgeben«, sagte sie und wies zum Turm. »Ich danke dir von Herzen. Du weißt, wie viel mir der Anhänger bedeutet, aber ich will es zurückzahlen.«
Er nickte erneut, doch dann schüttelte er plötzlich den Kopf, als wolle er sich aus seiner Starre lösen, und reichte ihr den Brief. »Ich habe vorhin nach dir gesucht. Ein Bote ist gekommen – daher auch mein plötzlicher Reichtum.« Er lachte freudlos auf. »Mein Vater hat mir Geld geschickt, aber auch ein Brief für dich war dabei – er ist von der Königin.«
»Von der Königin?!« Marinel nahm das Schreiben mit klammen Fingern entgegen, wagte es aber nicht, es zu öffnen. »Was will sie von mir?«
Ein nun ganz und gar freudiges Lächeln erhellte sein Gesicht. »Nun, du erinnerst dich vielleicht daran, dass die Königin dir bei der Ankunft in Riniel eine Belohnung für deine Tapferkeit versprochen hat …«
Marinel sah ihn verwirrt an. Sie hatte die Worte der Königin für höfliche Floskeln gehalten. Niemals hätte sie geglaubt, dass sich eine so bedeutende Elfe wie sie an ein Versprechen erinnern würde, das sie einem Stallmädchen gegeben hatte.
»Dieser Brief beordert dich zurück nach Lurness, wo du deinen Ritterschlag erhalten sollst.«
Die Welt schien stehen zu bleiben. Das Krächzen der Raben, das Rauschen des Windes in den Blättern, das ferne Weinen von Kindern … alles verstummte, als Marinel plötzlich erstarrte. Die Worte hallten in ihrem Kopf nach und ergaben doch keinen Sinn.
»Marinel, verstehst du? Ein Ritter! Du wirst endlich ein Ritter!«
Marinel schüttelte den Kopf. Sie konnte nicht klar denken. Arn sollte morgen sterben, und sie wurde zum Ritter geschlagen– für die Rettung ihrer Königin. Das war es, was sie sich immer gewünscht hatte, worauf sie hingearbeitet hatte, also warum fühlte sie sich plötzlich so leer? War es die Erkenntnis, dass man für wahres Rittertum keine Rüstung benötigte? Oder das Wissen um den bevorstehenden Krieg? Wenn die Magie erst einmal vernichtet wäre, hätte sie nichts mehr, was ihre Behinderung ausgleichen könnte. Ihre Macht sollte zerstört werden, noch ehe sie überhaupt wusste, von wem sie sie geerbt hatte. Es gab so viele Fragen, und der Ritterschlag schien im Vergleich dazu so unbedeutend. Einst hatte sie davon geträumt, gemeinsam mit Valuar zum Ritter geschlagen zu werden. Er war ihr so vertraut gewesen, auch wenn sie nur selten miteinander gesprochen hatten. Aber in seiner Nähe hatte sie sich immer wohl gefühlt, und sie vermisste das so sehr. Hier in der Fremde hatte sie nur ihn, und doch hatte sie gemeint, sie müsse ihn hassen. Das wollte sie nicht mehr.
Aber dann kam die Erinnerung. An seine starren Augen, seine Finger, die sich von den ihrigen lösten, und ihre Sehnsucht nach dieser alten Freundschaft wurde überlagert von Schmerz. Es sollte
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