Elfenmeer: Roman (German Edition)
Menschenhändlern hätte sie aber gewiss keinen Zutritt zu ihrer Insel gewährt, und so musste jenes Schiff, das Chip aufgebracht hatte, zu den anderen Händlern dazugestoßen sein.
Nayla sah sich an Deck um. Manche der Menschen waren so abgemagert, dass sie nur noch aus Haut und Knochen zu bestehen schienen, andere waren von grässlichen Wunden gezeichnet.
»Diese Menschen brauchen dich.« Nayla schob Avrees Arm von sich, der um ihre Schultern gelegen hatte, und wies auf eine Gruppe übel zugerichteter Kinder, die sich an der Bordwand zusammenkauerten. Vermutlich hatten sie in den Minen gearbeitet, denn ihre Gesichter wiesen Schürfwunden und Schwellungen auf, über denen immer noch feiner Steinstaub lag. Sie waren einfach so verschifft worden, ohne ihnen die Möglichkeit zu geben, sich zu waschen oder ihre Wunden zu versorgen.
»Ich kümmere mich darum.« Avree hauchte ihr noch einen Kuss auf die Wange und schritt davon, um die anderen Heilerzu unterstützen. Bestimmt kam es ihm gelegen, das Gespräch mit Koralle hinauszuzögern, schließlich hatte er Ärger zu erwarten.
Nayla setzte indessen ihren Weg zum Quarterdeck fort und ließ ihren Blick weiterwandern. Eiskaltes Grauen erschütterte ihre Seele beim Anblick dieser übel zugerichteten Kreaturen. Sie selbst war einst solch ein Flüchtling gewesen und erinnerte sich noch gut an den Hunger, die Kälte und die Angst. Es waren eher diese unangenehmen Gefühle, die sie manchmal des Nachts heimsuchten, weniger die Bilder. Die Piraten waren ihre Rettung gewesen, und Nayla hatte sich ihnen nur allzu gerne angeschlossen. Niemand sonst setzte sich für die Menschen ein, kämpfte gegen die Ungerechtigkeit, die Fürst Averon aus Riniel über dieses Volk brachte. Und die Königin sah einfach darüber hinweg. Oder …
Verdutzt hielt Nayla inne. Sie wollte gerade die Treppe zum Quarterdeck hochsteigen, als sie daneben die Königin entdeckte, die alles andere tat, als wegzusehen. Im Gegenteil. In ihrem prachtvollen Kleid kniete sie auf den feuchten Planken und wischte einer alten Frau das Blut von der Schulter. Sie sprach kein einziges Wort dabei, sondern reichte einfach nur Wasser weiter oder wusch die von Blut und Dreck verkrusteten Körper.
Wenn Nayla es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, so hätte sie jeden, der ihr dies erzählt hätte, einen Lügner geschimpft. Dies war doch die Königin! In Naylas Vorstellung eine unnahbare und durch und durch majestätische Gestalt, die sich nicht die Finger schmutzig machte, sondern eher mit gerümpfter Nase auf das Elend hinabblickte. Aber diese Elfe hier zögerte noch nicht einmal, die stinkenden, eitrigen Wunden mit ihren zarten Fingern zu berühren.
»Sonderbar, nicht wahr?«, erklang plötzlich die Stimme desKorallenfürsten neben ihr. Der Elf stand auf der untersten Treppenstufe und blickte genauso verwundert auf die Königin, die bei all dem Wehklagen um sie herum nichts von ihren Beobachtern zu bemerken schien.
»Das ist es«, sagte Nayla und konnte den Blick nicht von der schönen Elfe abwenden. Eine Schmutzspur verlief über ihre Elfenbeinhaut an der Wange, einzelne Strähnen ihres silberschwarzen Haars hatten sich um die Ketten in ihrem Haar geschlungen und flatterten wild im Wind. Doch sie schien von alldem nichts zu bemerken und war ganz und gar auf die Menschen um sie herum konzentriert. »Wenn sie sich so sehr um die Menschen sorgt«, sprach Nayla ihre Gedanken laut aus, »weshalb lässt sie es dann zu, dass Averon sie so schlecht behandelt? Wieso gibt sie die Menschen nicht endlich frei?«
Der Korallenfürst schwieg eine Weile, und Nayla nahm an, dass er keine Antwort auf diese Frage wusste. Schließlich legte er ihr die Hand auf die Schulter, was Nayla fast genauso überraschte wie die Fürsorglichkeit der Königin. Denn meist verhielt sich der Korallenfürst reserviert ihr gegenüber.
Verblüfft blickte sie zu dem hochgewachsenen Elfen auf und sah ihm in die magisch silbernen Augen.
»Geht es dir gut?«, fragte er, und Nayla wusste, dass er auf ihre neuerliche Begegnung mit dem Feuer anspielte. Es fiel ihr schwer, den Korallenfürsten anzulügen, und so nickte sie nur. Ihr Blick glitt zu Avree hinüber, der gerade dabei war, ein paar Flüchtlinge zu heilen, und dann kam auch schon Flosse an Deck, um an der Kapitänsversammlung teilzunehmen.
»Avree soll zu mir kommen«, sagte der Korallenfürst, drehte sich um und ging wieder die Treppe aufs Quarterdeck hoch. Flosse lief an ihr vorbei, zeigte ihr
Weitere Kostenlose Bücher