Elfennacht 01. Die siebte Tochter
schon ganz sacht.«
Anita runzelte die Stirn. Text und Melodie kamen ihr bekannt vor, dabei hatte das Lied nicht in dem ledergebundenen Buch gestanden. Wo hatte sie es schon mal gehört?
Zara drehte sich zu ihr und nahm eines der Saiteninstrumente in die Hand. »Du erinnerst dich sicher besser, wenn du zusammen mit mir spielst«, sagte sie, als könnte sie Anitas Gedanken lesen. »Ich habe deine Laute häufig nachgestimmt, seit du zum letzten Mal auf ihr gespielt hast.« Sie lächelte. »Siehst du? Ich habe immer fest daran geglaubt, dass du eines Tages zu uns zurückkehren würdest.«
Anita nahm das schwere Instrument in die Hand. Es hatte einen birnenförmigen Körper und Bünde verliefen über den langen Hals, der spitzwinklig nach hinten gebogen war.
»Setz dich«, sagte Zara.
Anita nahm auf der Kante des kleinen Podiums Platz und legte sich die Laute in den Schoß. Sie starrte auf die Saiten: Da gab es eine dicke Saite, gefolgt von fünf dünneren Saitenpaaren. Zu Hause hatte sie mal einige ungeschickte Versuche unternommen, Gitarre zu spielen, aber dieses Instrument hier sah viel komplizierter aus.
Sie blickte zu Zara auf. »Ich weiß ja nicht mal, ob ich darauf blasen oder trommeln soll«, sagte sie. »In solchen Sachen bin ich gar nicht gut.«
»Unsinn«, sagte Zara. »Ich werde langsam spiele n – und du machst einfach mit.«
Wieder klimperte sie eine hübsche Melodie auf dem Spinett.
»Na, das kann ja nur schiefgehen«, sagte Anita kaum hörbar, beugte sich über die Laute und legte die Finger auf die Bünde. Dann strich sie mit dem Daumen der anderen Hand über die Saiten.
Ein schöner Akkord erklang.
Überrascht lachte Anita auf. Wieder strich sie einen Akkord. »Hey, ich kann’s echt!«
»Jetzt sing mit mir«, wies Zara sie an. »Ich werde die Oberstimme übernehmen.«
Anita holte tief Luft und öffnete den Mund und zu ihrem Erstaunen erinnerte sie sich plötzlich an Text und Melodie.
»Im Dämmerlicht die Liebe lebt,
die Seelen sind vereint.
Und du musst fort in ferne Städt’,
du kämpfst dort gegen den Feind.
Dein Liebesschwur übertönt vom Trommeln
und du wirst stumm und schweigst.
Im Dämmerlicht die Liebe lebt,
zum Abschied du dich verneigs t …«
Sie konnte hören, wie harmonisch Zaras Sopran und ihre eigene Stimme klangen, und in diesem Moment in dem sie die Worte sang, die sie nicht kennen konnte, und die geheimnisvollen Akkorde auf der Laute spielte, war ihr diese Traumwelt so vertraut, dass ihr Freudentränen in die Augen stiegen.
Doch ihr Glück war nur von kurzer Dauer. Plötzlich kam Wind auf, der brausend über sie hinweg fuhr, und Schmerz und Übelkeit übermannten sie. Anita krümmte sich wie von einem unsichtbaren Schlag getroffen, ihre Finger gerieten auf den Saiten ins Stocken und ihr Gesang wurde zu einem Stöhnen.
Die Welt um sie herum drehte sich und schien zu bebe n – doch plötzlich war alles vorbei.
Die lang gestreckte Kammer sah jetzt wie ein Ausstellungsraum aus, in dem Leute in hellbraunen Shorts und Turnschuhen herumliefen und in die unterschiedlichen Glasvitrinen spähten. Die Besucher hatten Fotoapparate um den Hals hängen und einige von ihnen hatten Kopfhörer auf und lauschten gebannt, als würden sie gerade einer Audioführung folgen.
Am Fenster stand ein Mann mit einem Klemmbrett.
Anita konnte noch immer das unmelodische Dröhnen der Laute höre n – und der Mann offenbar auch. Mit hochrotem Gesicht wandte er ihr den Kopf zu. Er machte einen Schritt auf sie zu und öffnete den Mund.
»Hey, Sie da! Was erlauben Sie sic h …«
Doch seine Worte gingen im Heulen des Windes unter und sein Gesicht verschwand hinter grell explodierenden bunten Lichtern.
Das Nächste, was Anita hörte, war Zara, die sich beschwerte.
»Was für ein entsetzlicher Missklang!«, rief sie aus. »Dabei hast du so schön angefangen. Ich glaube, du musst mehr üben.« Besorgnis schlich sich in ihre Stimme. »Tania? Fühlst du dich nicht wohl? Du bist ja ganz blass.«
Langsam ließen die Übelkeit und die Verwirrung nach und Anita warf Zara ein schwaches Lächeln zu. »Tut mir leid«, sagte sie. »Ich bin mir nicht sicher, was passiert ist.« Sie hielt kurz inne. »Hast du etwas gesehen?«
Zara runzelte die Stirn. »Was meinst du? Was war denn zu sehen?«
»Hier waren gerade Leute«, antwortete Anita. »Viele Menschen.«
»Hier drin?«, sagte Zara. »Oh nein, hier war niemand. Wir sind ganz allein.« Sie klimperte weiter auf dem Spinett. »Sollen wir
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