Elfennacht 01. Die siebte Tochter
Meerjungfrauen und Seeschlangen erhoben sich aus dem weißen Schaum und tauchten dann wieder unter die Oberfläche, sodass Gischt aufspritzte. Schneeweiße Wolken jagten auf dem oberen Teil der Wände über den azurblauen Himmel. Seemöwen flogen unter der Zimmerdecke, sodass ihre Flügel schwache Schatten warfen.
Anita strich zögernd mit der Hand über die Wand. Sie fühlte sich kalt und massiv an, wie bemalter Stein. Ein fernes Schiff glitt unter ihre Finge r – ein Schiff aus farbigen Pinselstrichen.
Es sah wie eine computeranimierte Fotografie aus, als das Schiff lautlos in dieser verzauberten Welt der Farben und der Pigmente davonsegelte.
Anita trat zurück und sah Zara an. »Wie funktioniert das?«, fragte sie. Angesichts dieses Schauspiels hatte es ihr schier die Sprache versprachen.
Zara lächelte sie an. »Vielleicht Magie?«, sagte sie. »Das ist nicht so ungewöhnlich. Wir alle haben ein Schlafgemach, das uns am Tagesende Freude beschert. Auf Sanchas Wänden tummeln sich zahllose Worte, die ihr nie enden wollende Geschichten und Märchen erzählen. Rathina hat einen Ballsaal voll unermüdlicher Tänzer. Hopies Schlafgemach ist ein Wald voller Kräuter und Heilpflanzen. Und in Cordelias Raum wimmelt es von den Tieren, die sie so liebt.«
»Aber bei mir ist es ganz anders«, sagte Anita. Auf ihren Wandteppichen waren kunstvoll ausgearbeitete Szenen zu sehen, aber sie waren leblos und zweidimensional, nicht lebendig wie diese bemalten Wände.
Zara sah traurig aus. »Doch, bei dir war es einst auch so«, sagte sie. »Vielleicht wird auch dein Zimmer wieder zum Leben erwache n – du musst Geduld haben.« Sie wandte sich um. »Aber sieh mal, was Mistress Mirrlees für mich hinterlassen hat!« Sie rannte zum Bett, wo ihr Ballkleid lag. Die hellblaue Seide glänzte auf der dunkelblauen Bettwäsche. »Komm, hilf mir beim Anziehen.«
Anita zwang sich ihren Blick von den wundersamen Wänden abzuwenden und kümmerte sich um Zara: Sie half ihr ins Kleid und schnürte ihr das Mieder zu.
Ihr Gewand war ebenso prächtig und fein gearbeitet wie das von Anita. Der blaue schimmernde Stoff war mit weißen und hellen Saphiren besetzt, die im nachmittäglichen Sonnenlicht verführerisch glitzerten und funkelten.
Anita kletterte auf Zaras Bett und sah zu, wie ihre Schwester vor dem seltsamen Meer tanzte. Die Schritte sahen ziemlich kompliziert aus. »Ich habe keine Ahnung, wie man das tanzt«, sagte Anita.
»Es wird dir sicher wieder einfallen«, sagte Zara lachend, während sie an ihr vorbeiwirbelte. »Deine Finger haben sich an die Laute erinner t – deine Füße werden sich an den Tanz erinnern.« Plötzlich hielt sie inne und blickte Anita aufgeregt an. »Erinnerst du dich an die Schritte zu All in a Garden Green? «, fragte sie. »Oder The Chirping of the Nightingale? Oder Jenny Pluck Pears? Aber an Fine Companion musst du dich erinner n – das war doch immer dein Lieblingstanz.«
Anita schüttelte den Kopf. »Vielleicht sollten wir vorher noch üben?«
Da ertönte in der Ferne eine Trompetenfanfare.
Zaras Lächeln wurde breiter. »Keine Zeit mehr«, sagte sie, beugte sich übers Bett und zog Anita hoch. »Der große Ball beginnt!«
Anita rutschte vom Bett. »Na gut«, murmelte sie, während Zara sie zur Tür zerrte. »Was habe ich schon zu verlieren? Das passiert ja sowieso alles nur in meinem Kopf. Also macht es auch nichts, wenn ich mich zum totalen Idioten mache.«
Anita hatte erwartet, dass alle Schlossbewohner zum Ball eilen würden, aber in den Korridoren und auf den Treppen war alles leer und still. Während die beiden die kerzenerleuchteten Gänge entlangschritten, spürte sie, wie Zaras Aufregung auf sie übersprang. Aber wo waren bloß alle anderen?
Sie gelangten in eine Vorhalle, die nur spärlich erleuchtet war und vollkommen verlassen war. Vor ihnen befand sich eine Flügeltür aus dunklem Holz.
»Öffne die Türen«, sagte Zara.
Verwirrt gehorchte Anita und die Türen schwangen auf.
Anita blickte sich über die Schulter Hilfe suchend nach Zara um. Was ging hier vor? Spielte ihr Zara etwa einen Streich?
»Na, los«, drängte Zara. »Du musst hineingehen.«
Achselzuckend trat Anita über die Schwelle in den pechschwarzen Raum. Dort blieb sie stehen und spähte angestrengt in die Dunkelheit.
»Hallo?«, rief sie. »Ist da jemand?«
Sie vernahm jetzt gedämpfte Musik, leise Cello- und Flötenklänge und sanftes Tamburintrommeln. Und plötzlich glomm in der kohlrabenschwarzen Dunkelheit
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