Elfennacht 01. Die siebte Tochter
Zinnen und einem spitz zulaufenden Schieferdach. »In diesem Turm wohnt Eden. Sie kommt selten heraus. Sie verbringt ihre Zeit allein und hängt düsteren Gedanken nach.«
Sancha stellte sich zu ihnen ans Fenster. »Eine Zeit lang ist sie nachts immer allein oben die Zinnen entlanggegangen, wenn wir im Bett waren«, murmelte sie. »Doch seit vielen Jahren schon ward sie dort nicht mehr gesehen. Sie bekommt die Mahlzeiten gebracht und stellt die leeren Teller und Becher vor die Tür. Nur daran merken wir, dass sie noch lebt.«
»Manchmal kann man ihre Silhouette am Fenster sehen«, fügte Zara hinzu und zeigte auf ein kleines Fenster hoch oben in dem finsteren Turm. »Sie beobachtet die Welt, nimmt aber nicht daran teil.«
»Warum?«, fragte Anita.
»Früher einmal war sie eine große Gelehrte der Mystischen Künste«, erklärte Sancha ihr. »Sie war beinahe so gut darin wie unser Vater. Aber sie hat ihrem Wissen abgeschwore n – seit die Große Dämmerung über uns kam, hat sie nicht mehr praktiziert.«
Anita starrte auf das dunkle Turmfenster und dachte daran, wie Oberon mit einer einzigen Bewegung seines Armes die Nacht in Tag verwandelt hatte. Sie nahm an, dass Sancha das mit Mystischen Künsten meinte. »Warum hat sie aufgehört?«
Sancha legte eine Hand auf Anitas Arm.
»Eden war dabei, als unsere Mutter starb«, sagte sie. »Sie machten gemeinsam zum Vergnügen eine Bootsfahrt auf dem Fluss. Doch das Boot kenterte. Eden schwamm ans Ufer, aber unsere Mutter blieb verschwunden.«
»Ihre Leiche ward nie gefunden«, flüsterte Zara. »Unser Vater war durch dein Verschwinden schon zutiefst verzweifelt. Als er vom Tode seiner geliebten Königin erfuhr, ließ seine Trauer das gesamte Reich in Dunkelheit versinken.«
»Zu Ehren unserer Mutter ließ er ein Mausoleum aus weißem Stein erbauen«, seufzte Sancha. »Natürlich ist es leer. Er geht auch nie hin.«
Anita fühlte mit ihnen und wünschte sich, es gäbe etwas, was sie sagen könnte, um ihre Trauer zu lindern. Gott sei Dank war ihre eigene Mutter wohlbehalten zu Haus e – sobald dieser Traum zu Ende war, würden sie sich wiedersehen.
… sobald der Traum zu Ende war.
Aber noch nicht gleich, dachte Anita. Erst nach dem Ball. Den will ich nicht verpassen. Sie lächelte. Vor allem, da er mir zu Ehren stattfindet.
Nachdem sie in Mistress Mirrlees Atelier alles geklärt hatten, kehrte Sancha in die Bibliothek zurück und Zara nahm Anita mit hinauf in einen gemütlichen Raum, der direkt unter einem Dachvorsprung lag.
»Das ist unser ganz besonderes Gemach«, erzählte Zara ihr. »Außer uns Schwestern kommt hier niemand her.« Sie sah Anita hoffnungsvoll an. »Kannst du dich wenigstens dunkel daran erinnern?«
Anita schüttelte den Kopf. Der Raum glich einer lang gestreckten Galerie mit Giebelfenstern in der Dachschräge. Er war mit Teppichen ausgelegt und die Möbel, bestickten Sofas und samtbezogenen Armsessel wirkten sehr prächtig.
Anita fiel ein Stickrahmen mit einem angefangenen Stickmuster auf. Daneben stand ein kleiner Tisch mit einem Schachbrett, auf dem offenbar gerade ein Spiel im Gang war. Auf der einen Seite des Zimmers gab es ein niedriges Podest, auf dem einige Musikinstrumente standen.
Zara zog Anita durch den Raum. »Komm, komm«, drängte sie die Schwester. »Vielleicht hilft dir Musik, dich zu erinnern.«
Anita betrat das kleine Podest. Verschiedene seltsam geformte Holzblasinstrumente standen aufgereiht an den Wänden, neben ein paar sonderbar aussehenden Saiteninstrumenten. Davor stand etwas, was wie ein altertümliches Klavier aussah, nur mit einer viel kleineren Tastatur und ohne Deckel. Außerdem verliefen die Saiten schräg statt gerade.
»Das ist ein Spinett, oder?«, sagte Anita. Als Oberon es erwähnte, hatte sie keine genaue Vorstellung gehabt, aber plötzlich wusste sie mit absoluter Sicherheit, dass dieses Instrument gemeint war.
Zara klatschte in die Hände. »Fürwahr, das ist ein Spinett«, sagte sie. »Erinnerst du dich an die Duette, die wir immer gespielt haben?« Sie raffte die Röcke, setzte sich an das Instrument und ließ die Finger über die Tasten gleiten. Wie der Klang silberner Glöckchen sprudelten die Töne daraus hervor und Zara begann dazu zu singen.
»Komm mit mir in den Rosengarten,
in die Juniblüte,
denn bald schon welkt die ganze Pracht,
wenn der Winterodem wütet.
Und ich muss bleib’n und du gehst fort,
die Fanfaren blasen zur Schlacht.
Komm mit mir in den Rosengarten,
dort dämmert’s
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