Elfennacht 01. Die siebte Tochter
Vor ihnen befand sich eine hohe, weiße Flügeltür. Rathina hatte bereits seit mehreren Minuten geschwiegen. Jetzt blieb sie mit gesenktem Kopf vor der Tür stehen.
»Die privaten Gemächer unserer Mutter«, sagte sie leise. »Wir kommen nur selten hierher. Es ist zu traurig. Doch ich denke, du solltest sie sehen.«
Sie berührte mit den Fingerspitzen die Türen, die daraufhin geräuschlos aufschwangen.
Anita trat über die Schwelle und blickte sich um. Der Raum war sehr groß, mit einer hohen stuckverzierten Decke. Die Läufer und Teppiche waren alle entweder weiß oder elfenbeinfarben, das helle Holz fast cremefarben, die gepolsterten Stühle und Sofas leuchteten so weiß wie Schnee.
Mehrere Türen gingen von dem Raum ab und auf der anderen Zimmerseite waren große Fenster, die vom Boden bis zur Decke reichten. Davor bauschten sich weiße Spitzenvorhänge, denn eines der großen Fenster stand halb offen und eine leichte Brise wehte in den Raum.
Verteilt im Raum standen persönliche Gegenstände: ein Stickrahmen mit aufgespanntem weißem Leinen, das Stickmuster war halb fertig. In einer Ecke stand eine Harfe und auf einem niedrigen Tischchen lag ein aufgeschlagenes Buch.
Rathina ging zu einer Glasglocke hinüber, die auf einem kleinen runden Tischchen stand. Unter dem durchsichtigen Glas lag eine herrliche Krone aus Kristall, die ganz mit schwarzen Edelsteinen besetzt war. Rathina berührte das Glas vorsichtig.
Anita stellte sich neben sie. Diese fein gearbeitete Krone hatte sie schon einmal gesehen, und zwar auf dem Kopf der Königin. Das war ganz zu Anfang gewesen, als sie gerade im Elfenreich angekommen war und Gabriel ihr durch seinen Zauber einen Blick auf den Palast erlaubt hatte, wie er vor dem Einbruch der Großen Dämmerung vor fünfhundert Jahren ausgesehen hatte.
Mit einem Seufzer wandte sich Rathina ab.
Anita kam es vor, als hätte die Elfenkönigin den Raum gerade erst vor ein paar Sekunden verlassen und als könnte sie jeden Augenblick hereinkommen. Es war nahezu unglaublich, dass diese wunderbaren Gemächer seit fünfhundert Jahren leer standen und ihre Eigentümerin tot sein sollte.
»Kannst du dich überhaupt noch an unsere Mutter erinnern?«, fragte Rathina mit gedämpfter Stimme.
Anita runzelte nachdenklich die Stirn. Doch sie konnte Titanias Bild nicht vor ihrem inneren Auge heraufbeschwören und auch keinen Bezug zu der Königin herstellen, die diese Gemächer einst bewohnt hatte.
Dann fiel ihr ihre eigene Mutter ein und schlagartig überkam sie Heimweh. Wie lange es wohl noch dauern würde, bis sie aufwachte und zurück bei ihrer Familie wäre?
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, gar nicht«, sagte sie. »Lass uns gehen.«
Sie setzten ihre Palasttour fort, aber die Melancholie der Königingemächer schwang noch eine Zeit lang nach, sodass es eine Weile dauerte, bevor Anita das Wort ergriff.
»Und jetzt?«
»Würdest du gern Cordelias Menagerie sehen?«, fragte Rathina.
»Das wäre genial.« Eine Menagerie klang faszinierend und vielleicht würde es sie etwas aufmuntern, wenn sie etwas Zeit mit den Tieren verbrachte.
Das Innere des Palasts war viel zu komplex, als dass Anita genau hätte sagen können, wo sie sich befand: Überall gab es gewundene Gänge, Räume, die wiederum in andere Räume führten, und geschwungene Treppen. Allerdings merkte Anita, dass Rathina sie auf dem gleichen Weg zurückführte, den sie gekommen waren. Als sie gerade an einigen hohen Fenstern entlanggingen, klatschten plötzlich von draußen Hände ans Fenster und ein kleines lausbübisches Gesicht erschien hinter der Glasscheibe. Anita erschrak, doch das Gesicht verschwand gleich wieder.
Als sie durch das Fenster nach unten blickte, sah sie, dass sie sich jetzt direkt über dem Hof mit den spielenden Kindern befanden. Das Kind, das sie so erschreckt hatte, flatterte gemächlich wieder zurück zum Boden, da eine der Frauen nach ihm rief.
Als die beiden Schwestern einen großen, kopfsteingepflasterten Hof mit einem Steinbrunnen in der Mitte durchquerten, erkannte Anita auf der anderen Hofseite den viereckigen, von dichtem Efeu überwucherten Turm mit dem spitz zulaufenden Dach wieder. »Ist das nicht der Turm, in dem Eden lebt?«
»Fürwahr, das ist er«, sagte Rathina. »Aber unser Weg führt durch dieses Tor hier.« Sie deutete auf einen Ausgang, der in die entgegengesetzte Richtung verlief.
Trotzdem blieb Anita stehen und blickte an dem düsteren Turm mit der efeuberankten Mauer und den kleinen
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