Elfennacht 01. Die siebte Tochter
hier gelandet bin«, sagte Anita. Und immer wieder zurückgleite , dachte sie. Sie lächelte Rathina an. »Und wohin gehen wir jetzt?«
»Zu den privaten Gemächern der Königin«, sagte Rathina.
Sie gingen die Wendeltreppe wieder hinunter und Arm in Arm durch eine scheinbar endlose Aneinanderreihung von Sälen, prächtigen sonnigen Höfen, schattigen efeubewachsenen Kreuzgängen und eingefassten Gärten. Anita war einiges bereits vom Hampton Court Palace vertraut, nur dass die Anlage des Elfenreichs viel größer war und es vieles gab, was sie noch nie gesehen hatte.
Als sie schließlich in einen großen, mit Gras bewachsenen Innenhof kamen, sah Anita dort zum ersten Mal Elfenkinder.
Sie spielten miteinander und zwei junge Frauen in himmelblauen Kleidern passten auf sie auf. Es waren kleine Babys dabei und einige größere Kinder, die ältesten schätze Anita so auf neun oder zehn Jahre. Doch was sie vor allem stutzen ließ, war der Anblick langer, hauchdünner Flügel am Rücken der Kinder, die durch Schlitze in der Kleidung herausragten.
Flügel!
Sie sahen genauso aus wie die, die ihr in jener Nacht im Krankenhaus gewachsen und wieder abgefallen waren.
Eine der beiden Frauen hatte ein Kleinkind auf dem Schoß, das ungefähr zwei Jahre alt war und mit einer Strohpuppe spielte. Ab und zu warf es die Puppe weg, klatschte in die Hände und flog mit ungelenken Flügelschlägen zu der Puppe hin, um sie sich wiederzuholen.
Einmal ließen seine kleinen Flügel es im Stich und es plumpste ins Gras und weinte so bitterlich, dass die Frau zu ihm lief, es auf den Arm nahm und tröstete.
Eine Gruppe älterer Kinder spielte mit einem Ball. Sie warfen ihn hoch in die Luft und flogen abwechselnd hinterher, um ihn zurückzuholen. Andere spielten Fangen und flatterten kreuz und quer über den ganzen Hof, um nicht gefangen zu werden, wobei ihre Flügel im Sonnenlicht schillerten.
Bei dem Anblick der tobenden Kinder wurde Anita traurig. Wie schade, dass sie keine Flügel mehr hatt e – es wäre herrlich, noch einmal fliegen zu können!
Dann bemerkte sie, dass die ältesten Kinder Spiele spielten, bei denen nicht geflogen wurde. Ein oder zwei von ihnen trugen sogar Kleidung, die ihre Flügel bedeckte, sodass sich Erhebungen unter den Kleidern abzeichneten.
Neugierig wandte sich Anita an Rathina. »Du hast keine Flügel, oder?«, fragte sie.
Rathina sah sie geschockt und fast ein bisschen beleidigt an. »Aber nein, Tania«, sagte sie. »Hältst du mich etwa für ein kleines Kind?«
Anita tippte sich an die Stirn. »Keinerlei Erinnerung«, sagte sie. »Schon vergessen?«
Rathina lachte. »Dann sei dir noch einmal verziehen, aber zu vermuten, dass eine erwachsene Elfe noch ihre Flügel besitzt, ist gleichbedeutend damit, dass man sie für kindisch hält.«
»Warum?«
»Wir werden mit Flügeln geboren und die ersten zehn oder zwölf Jahre unseres Lebens wachsen die Flügel mit, aber wenn wir dann erwachsen werden, welken die Flügel und schrumpfen, bis sie schließlich ganz verschwunden sind.« Sie drückte Anitas Arme. »Ich erinnere mich noch, wie du als Kind durch die Gänge geflattert bist wie eine irre Libell e – du hattest nur Unfug im Kopf. Du hast mir mal gesagt, dass du immer fliegen möchtest.« Sie lächelte. »Doch an deinem zehnten Geburtstag hast du dir ein Kleid ohne die Flügelschlitze am Rücken bestellt und danach bist du nie wieder geflogen.« Sie nickte. »Und genau so sollte es auch sein. Wir entledigen uns solcher Kindereien, wenn wir erwachsen werden.«
Anita blickte sie wortlos an. Sie hatte Rathina eigentlich von dem wundervollen Flug erzählen wollen und davon, wie atemberaubend es gewesen war, durch die Nachtluft zu sausen. Doch jetzt beschloss sie, es lieber für sich zu behalte n – sie wollte nicht, dass Rathina sie für kindisch hielt. Vielleicht würde sie es ihr später einmal erzählen, wenn sie sich schon besser kannten. Oder vielleicht sollte sie es besser Zara anvertrauen. Zara war viel unbeschwerter als Rathina und möglicherweise konnte sie ihre Sehnsucht verstehen.
Die beiden Schwestern beobachteten die Elfenkinder noch eine Weile.
Anita machte es ein wenig traurig, dass deren Freude am Fliegen bald ein Ende haben würde.
Zu guter Letzt führte Rathina Anita aus dem Hof hinaus und weiter durch das schier endlos große Areal des Königspalastes.
Über eine breite, weiße Marmortreppe gelangten sie hinauf zu einer hohen kuppelartigen Vorhalle mit strahlend weißen Wänden.
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