Elfennacht 01. Die siebte Tochter
dunklen Fenstern empor. Sie versuchte sich vorzustellen, wie es wohl sein mochte, fünfhundert Jahre lang an einem solchen Ort zu leben.
Sie konnte nicht verstehen, warum Eden nicht wenigstens aus dem Turm herausgekommen war, als Tania ins Elfenreich zurückgekehrt war: Alle anderen hatten sich gefreut, sie zu sehe n – warum nicht Eden? Vielleicht wusste sie gar nicht, dass ihre lang verschollene Schwester zurück war. Nun, das ließ sich leicht ändern.
Anita ging näher an den Turm heran.
»Tania, komm da weg!«, rief Rathina.
Beschwichtigend hob Anita eine Hand und ging, ohne sich umzusehen, auf den Turm zu. »Bin gleich wieder da«, rief sie.
Am Fuß des Turms führten drei ausgetretene Steinstufen zu einer viereckigen schwarzen Tür hinauf, die mit langen Efeuranken halb zugewachsen war. In der Nähe des Eingangs gab es keine Fenster. Als Anita um eine Ecke ging, entdeckte sie dort ein großes rundes Fenster. Es war ebenfalls halb mit Efeu zugewuchert und das Glas war dunkel und schmutzig, aber darunter konnte man farbiges Glas erkenne n – es erinnerte Anita an ein buntes Kirchenfenster. Anita stellte sich direkt darunter und versuchte in das Innere des Turms zu sehen. Der niedrige geschwungene Sims befand sich auf Schulterhöhe, aber das Fensterglas spiegelte so sehr, dass Anita zunächst kaum etwas erkennen konnte.
Sie rieb mit der Hand darüber und spähte dann abermals angestrengt hinein. Erschrocken hielt sie den Atem an, als sie eine dunkle Gestalt, die eine Art dunkler Kutte oder Umhang mit Kapuze trug, im Inneren entdeckte.
»Eden?«, flüsterte Anita kaum hörbar. Von der düsteren Gestalt ging eine derartige Verzweiflung und Trauer aus, dass ihr ein kalter Schauder über den Rücken lief. Ein beklemmendes Gefühl breitete sich in ihr aus.
Auf einmal zerrte jemand sie am Handgelenk von dem Fenster weg.
»Hier sollten wir uns nicht aufhalten«, schimpfte Rathina mit Anita, die angesichts des hellen Sonnenlichts im Hof blinzeln musste.
»Ich habe etwas gesehen«, sagte Anita, während sie von Rathina weiter über den Hof gezogen wurde. »Durch das runde Fenster. Ich bin mir nicht sicher, was es war.«
»Dieser Raum ist der heilige Ort unserer Schwester«, sagte Rathina. »Dort hat sie vor langer Zeit die Mystischen Künste praktiziert.« Ihr Tonfall klang bestimmt. »Wir gehen dort nicht hin, Tania. Diesen Ort muss man meiden.«
»Ja, verstehe. Tut mir leid.« Anita warf einen hastigen Blick zurück. Flüchtig meinte sie ein Gesicht am oberen Fenster zu sehen, aber gleich darauf war es wieder verschwunden und sie war sich nicht ganz sicher, ob es nicht vielleicht nur ein Schatten gewesen war.
Die beiden Schwestern gingen einen Gang entlang und durchquerten einen luftigen Raum, dessen Türen sich zum sonnenbeschienenen Palastgarten öffneten.
Ein Netzwerk aus gelben Wegen teilte den gestutzten Rasen und die vielen Blumenbeete, die von Statuen, Springbrunnen und Reihen schmaler, akkurat geschnittener Bäume gesäumt wurden.
Rathina führte sie einen Pfad entlang, der unterhalb der Palastmauern verlief, um hohe Rhododendronbüsche herumführte und sich schließlich vor dem Labyrinth verbreiterte.
Das Labyrinth sah dem vom Hampton Court Palace zum Verwechseln ähnlich. Es schien eine exakte Kopie zu sein, nur dass es hier keine Schilder und keine metallenen schwarzen Drehkreuze vor dem Eingang gab.
Anita spähte durch die hohen, raschelnden Hecken. »Wir waren mal auf einem Schulausflug hier«, sagte sie. »Ich bin reinmarschiert und hab schnurstracks den Weg in die Mitte gefunden, als hätte ich das schon tausendmal gemacht.« Sie sah Rathina an. »Seltsam, was?«
»Wir haben hier früher Verstecken gespielt«, sagte Rathina. »Zara, Cordelia, du und ic h – als Kinder.«
»Und die anderen nicht?«
»Sancha manchmal auch, wenn wir sie von ihren Büchern weglocken konnten«, antwortete Rathina. »Aber Hopie und Eden waren schon damals viel zu erwachsen und konnte nur selten zum Spielen überredet werden.« Sie lächelte. »Du hast fast immer gewonne n – auch wenn du oft geschummelt hast, indem du einfach über die Hecken geflogen bist.«
»Ich war damals wohl ziemlich dickköpfig, was?«, sagte Anita.
»Allerdings.«
Während Anita auf den von grünen Hecken gesäumten Fußweg starrte, überkam sie eine flüchtige Erinnerung daran, wie sie zwischen den Büschen hin und her flatterte, während ihr die Schwestern kichernd hinterherjagten.
Sie schüttelte den Kopf. Das war nicht
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