Elfennacht 01. Die siebte Tochter
herrschten?
Nach dem Frühstück begann die Palasttour.
Rathina führte Anita eine lange Wendeltreppe in einen Turm hinauf. Nachdem sie sich durch eine schmale Tür gezwängt hatten, traten sie schließlich auf das zinnengesäumte Dach des Turms hinaus. Von dort aus hatten sie einen atemberaubenden Blick über die ganze Gegend und der warme Wind blies ihnen ins Gesicht.
Anita beugte sich über die Zinnen und hielt den Atem an. Der Palast war sogar noch größer, als sie ihn sich vorgestellt hatte.
Sie hatte ihn schon mal kurz auf ihrem Flug gesehen, aber da war alles so dunkel gewesen, dass sie nicht das ganze Ausmaß des Palastes hatte erfassen können.
Die roten Backsteingebäude und Höfe direkt unter ihr waren genauso angeordnet wie in Hampton Court Palace, mit großen Rasenflächen, die zum Fluss hin sanft abfielen. Und doch war der Elfenpalast viel größer als das historische Gebäude, das Anita auf dem Schulausflug gesehen hatte. Er ging weit über die Grenzen des Hampton Court Palace im London des 21 . Jahrhunderts hinaus. Die großen Backsteingebäude mit den cremefarbenen Steinornamenten, den Fensterbögen und Zinnen erstreckten sich Richtung Osten, so weit das Auge reichte. Entlang des gewundenen Flusses reihte sich Turm an Turm, Mauer an Mauer und Bastion an Bastion.
Am äußersten Rand ihres Gesichtsfeldes wurde der Fluss schließlich breiter und Anita konnte gerade noch große Anlegestege und Kais und mächtige Segelschiffe ausmachen, deren hohen Masten hoch in den Himmel ragten.
Im Süden, auf der gegenüberliegenden Uferseite, schien das Land ein einziger grüner Wald zu sein, der sich endlos weit erstreckte. Ein paar Brücken spannten sich über das dahinströmende blaue Wasser, einschließlich der mit den weißen Türmen, die Anita bereits kannte. An jeder Brücke des Flusses gab es jeweils ein paar dicht gedrängte Häuschen und Anlegeplätze und Anita glaubte sogar, Straßen zu erkennen, die unter den Baumkronen entlangliefen.
»Wie heißt der Fluss?«, fragte sie mit Blick auf das kristallklare Wasser, das unter ihr im Sonnenlicht glitzerte und funkelte.
»Tamesis«, antwortete Rathina, die Anita über die Schulter blickte.
»Tamesis?«, wiederholte Anita. »Das klingt ja ganz ähnlich wie Themse.« Sie bemerkte Rathinas fragenden Blick. »So heißt der Fluss, der durch London fließt.«
»London?«
Anita schüttelte den Kopf. »Nicht so wichtig.«
Sie ging auf die andere Seite des Dachs hinüber. Im Norden begannen direkt an den Palastmauern große kunstvolle Gärten mit bunten Blumenbeeten und Sandwegen. Dahinter lagen einzelne verstreute Waldstücke, aber auch große offene Grasflächen. Das Ganze ähnelte einer weitläufigen Parkanlage. Da gab es einen See mit klarem blauem Wasser, der von Schilf und Weiden umgeben war. Zwischen einigen hohen Bäumen entdeckte Anita ein einzelnes Gebäude mit weißen Turmspitzen, dahinter schloss sich sanft gewelltes Land mit purpurrotem Heidekraut an.
Plötzlich erregte etwas Anitas Aufmerksamkeit und sie beugte sich über die Brüstung und starrte auf einen Teil des Gartens, der direkt unterhalb des Turms war, auf dem sie standen. Es war ein dreieckig angelegtes Stück Grün, und als sie genauer hinsah, bemerkte sie, dass es ein Labyrinth aus akkurat gestutzten Hecken war.
»Ist das ein Irrgarten?«
»Ja«, sagte Rathina. »Erinnerst du dich an ihn?«
»Schon«, sagte Anita. »Aber nicht von hier.« Sie sah ihre Schwester an. »Ich kenne ihn von zu Hause. Vom Hampton Court Palace.«
Rathina lächelte unsicher. »Von so einem Ort habe ich noch nie gehör t – ist er fern von hier?«
»Das weiß ich nicht«, sagte Anita. »Er scheint sehr weit entfernt und dann doch ganz nah. Er liegt in der Welt, aus der ich komm e – der wirkliche n … ich meine, der Welt der Sterblichen.« Es war sonderbar, diesen Ausdruck zu benutzen.
»Ah ja, von so was habe ich schon gehört«, sagte Rathina zu Anitas Überraschung. »Sancha könnte das jetzt besser erklären.«
»Was erklären?«
Rathina legte die Handflächen aneinander, sodass sie sich fast berührten. »Das Elfenreich und die Welt der Sterblichen liegen sehr nah beieinander«, sagte sie. »Und es gibt Stellen, an denen der Schleier zwischen den beiden Welten hauchdünn is t – wo das Elfenreich und die Welt der Sterblichen sich beinahe berühren.« Sie legte die Hände aufeinander und verschränkte die Finger. »Vielleicht ist das hier so eine Stelle.«
»Das würde erklären, wie ich
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