Elfenschiffe (Mithgar 03)
Stehlen, wenn das nur aus eigennützigen Motiven geschieht, weil die Lügner, Betrüger und Diebe keine Rücksicht auf die Gefühle jener nehmen, denen sie Unrecht tun, dann handeln sie böse.
Aber nehmt den Fall an, dass jemand stiehlt, um seine Familie zu ernähren. Oder lügt, um seinen König zu schützen. Oder stiehlt, um anderen das Leben zu retten. Dann glaube ich, dass es vielleicht nicht böse ist, obwohl in diesen Fällen der Täter tatsächlich ein Unrecht begeht…
Ist das möglich, Alamar? Ist es möglich, absichtlich ein Unrecht zu begehen, ohne etwas Böses zu tun?«
»Ach, Jinnarin, das ist eine Frage, die Philosophen schon sehr lange beschäftigt: In welchem Grad kann ein edles Motiv ein Unrecht entschuldigen? Aber ich werde Euch selbst nach der Antwort suchen lassen, denn es ist eine sehr tiefsinnige Frage, die angestrengtes Nachdenken verdient hat.
Lasst mich Euch stattdessen eine andere Frage stellen, Pysk: Was ist mit der Herrschaft, die wir über Missetäter ausüben? Wir sperren sie ein. Manchmal verurteilen wir sie zu Zwangsarbeit oder anderen Strafen. Ist es nicht böse, andere Wesen in diesem Maß zu beherrschen?«
Jinnarin dachte lange nach, ehe sie antwortete. »Wir tun diese Dinge, weil wir uns um unseresgleichen kümmern, wie sich der Leitwolf um sein Rudel kümmert. Einen Missetäter frei in unserer Mitte zu dulden, hieße, ein Raubtier mitten in unserer Herde zu dulden. Daher darf man so etwas nicht gestatten.«
»Gut gesprochen, Pysk. Aber nun frage ich Euch dies: Was ist mit der Herrschaft über Kinder? Dürfen wir ihr Leben beherrschen?«
»Alamar, die Kinder sind ein Sonderfall. Wenn sie jung sind, wissen sie wenig oder gar nichts, und in dem Fall muss man auf sie aufpassen und sie anleiten. Wenn sie älter werden, kann und sollte man ihnen mehr Freiheiten lassen, denn schließlich nähern sie sich dem Erwachsenwerden. Wenn man sie anleitet, sich ihre eigenen Gedanken zu machen, und wenn man ihnen gestattet, Erfahrungen zu sammeln, die ihnen im Leben gute Dienste leisten werden, können sie sich mehr und mehr wie die unabhängigen Personen verhalten, die sie unserer Ansicht nach werden sollen. Und natürlich kommt irgendwann immer der Moment, wenn wir sie loslassen müssen, damit sie ihre eigene Wahl treffen können.
Also ist die Herrschaft über Kinder nicht an und für sich böse, es sei denn, die zugrunde liegende Absicht ist es, über ein anderes Wesen zu herrschen.«
Alamar nickte zustimmend. »Dann sagt mir eines, Jinnarin. Worin liegt nun das Wesen des Bösen?«
Jinnarin erhob sich und marschierte auf und ab. »Jeder von uns sollte Herr über sein Schicksal sein. Nur unter ganz besonderen Umständen sollten wir einen eng begrenzten Teil dieser Herrschaft an andere abtreten, wenn es zum Beispiel darum geht, einen gemeinsamen Feind abzuwehren, unter Umständen, in denen einer führt und alle anderen folgen müssen. Doch ansonsten sollte es niemandem gestattet sein, sich willkürlich in das Leben anderer einzumischen.
Böse ist es, wenn eine Person oder auch mehrere versuchen, uns zu ihrem eigenen Wohl die Kontrolle über unser Schicksal zu entreißen, uns unserer Wahlfreiheit zu berauben, uns körperlich, seelisch oder geistig verletzen.
Und das, Alamar, ist das Wesen des Bösen: Macht, Autorität, Herrschaft, Befehlsgewalt, Unterdrückung der Freiheit, Fremdbestimmung – all das zum Wohle des Herrschenden.«
Alamar lächelte und schüttelte langsam den Kopf. »Bei Adons Weisheit, Ihr würdet wirklich einen wunderbaren Gehilfen abgeben.«
Jinnarin errötete. »Dann nehme ich an, dass ich das Wesen des Bösen recht gut definiert habe?«
Das Lächeln verschwand von Alamars Gesicht, und er entgegnete: »Bildet Euch nichts ein, Pysk. Es ist ein Anfang. Mehr nicht. Nur ein Anfang.«
Jinnarin richtete sich zu ihrer vollen Größe von zwölf Fingerbreit auf. »Was habe ich ausgelassen?«, wollte sie wissen.
»Du meine Güte, eine Menge, Kind, eine Menge.«
»Wie zum Beispiel…?«
»Nun, zum Beispiel habt Ihr davon gesprochen, das Recht der Selbstbestimmung unter ›besonderen Umständen‹ abzugeben und die Herrschaft über Euer Leben jemand anderem zu übertragen, jemandem, den Ihr ›Anführer‹ genannt habt. Aber Ihr habt nicht erwähnt, dass Ihr damit äußerst unsicheren Boden betretet, denn was für den einen besondere Umstände sind, mag für den anderen unnötige Einmischung sein. Man muss immer fragen: ›Wer nennt dies einen besonderen Umstand?‹ und:
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