Elfenstern
existierte.
Das Königreich Thurn erstreckte sich über
mehrere Vegetationsschichten. Die Behausungen und
Arbeitsstätten der Zwerge befanden
sich in den Stämmen gigantischer Schlotbäume. Sie
trugen diesen Namen, weil das
Holz schwer brennbar war und der Rauch der Feuer durch
natürliche Schächte im
Herz der Bäume abziehen konnte. Ausgehöhlte
Äste und Wurzeln dienten als
Verbindungswege und Straßen, die von Fackeln beleuchtet
wurden. Die Elfen und
Menschen lebten an einem Tag, der kein Ende nahm. Die Zwerge lebten in
endloser
Nacht – eine Nacht, die sie liebten und als Segen empfanden,
von der Drugar
jedoch befürchtete, sie könne zu einem Symbol des
Untergangs werden.
Die Botschaft seines Königs erreichte Drugar zur
Mittagsstunde. Es sprach für ihre Wichtigkeit, daß
man es für unumgänglich
hielt, ihn zur Essenszeit zu behelligen, obwohl bei den Zwergen jede
Ablenkung
von der Nahrungsaufnahme und dem anschließenden,
überaus wichtigen
Verdauungsprozeß für schädlich gehalten
wird. Während des Essens ist jede
Unterhaltung verpönt, und in der Zeitspanne danach pflegt man
ausschließlich
angenehme Themen zu diskutieren, um zu vermeiden, daß die
Magensäfte in Aufruhr
geraten.
Der Bote des Königs entschuldigte sich wortreich
für die unverzeihliche Störung, jedoch nicht ohne zu
betonen, die Angelegenheit
sei tatsächlich von größter Bedeutung.
Drugar sprang so hastig von seinem Stuhl
auf, daß Tassen und Teller klirrten und sein alter Diener
mürrisch die
bedenklichsten Folgen für den Magen-Darmtrakt seines Herrn
prophezeite.
Drugar, der den Grund für die unzeitige
Störung
zu kennen glaubte, hätte dem Mann beinahe gesagt, die Zwerge
könnten sich
glücklich schätzen, wenn ihnen andere Sorgen als die
um ihre Verdauung erspart
blieben, doch er schwieg. Bei den Zwergen ehrt man das Alter.
Seines Vaters Baumhaus lag gleich nebenan, und
Drugar hatte nicht weit zu gehen. Er legte die kurze Strecke im
Laufschritt
zurück, doch vor der Tür blieb er stehen und
zögerte einzutreten; er hätte
gerne darauf verzichtet zu hören, was er doch hören
mußte. Er stand in der
Dunkelheit, legte die Hand um den Runenstein an seinem Hals und flehte
den
Einen Zwerg an, ihm Mut und Weitsicht zu verleihen. Nach einem tiefen
Atemzug
öffnete er die Tür und trat ein.
Seines Vaters Haus sah genauso aus wie Drugars
Heimstatt und die wiederum glich jeder anderen Zwergenbehausung in
Thurn. Das
Holz des Baums war geglättet und poliert worden, bis es in
einem warmen, gelben
Ton glänzte. Der Boden war eben, die Wände neigten
sich zu einer gewölbten
Decke. Die Einrichtung war sparsam und schlicht. König zu sein
verlieh seinem
Vater keine besonderen Privilegien, nur zusätzliche
Verantwortung. Der König
war der Kopf des Einen Zwergs, und der Kopf, auch wenn er für
den Körper das
Denken übernimmt, ist für den gesamten Organismus
dennoch nicht wichtiger als
zum Beispiel das Herz oder der Magen.
Drugar traf seinen Vater beim Essen, doch er
hatte die halbvollen Teller zur Seite geschoben. In der Hand hielt er
ein Stück
Rinde, deren glatte Seite dicht mit den kantigen Schriftzeichen der
Zwerge
bedeckt war.
»Was gibt es für Neuigkeiten,
Vater?«
»Die Riesen kommen«, sagte der alte Zwerg.
(Drugar war der Sohn aus einer späten Ehe. Seine Mutter stand
zwar im besten
Einvernehmen mit seinem Vater, doch sie führte ein eigenes
Haus, wie es bei den
Zwergenfrauen üblich ist, sobald ihre Kinder erwachsen sind. )
»Die
Kundschafter haben sie beobachtet. Die Riesen haben Krasnar vernichtet
– das
Volk, die Städte, alles. Jetzt marschieren sie auf uns
zu.«
»Vielleicht«, meinte Drugar,
»hält das Meer sie
auf.«
»Das Meer wird sie aufhalten, aber nicht
für
lange«, entgegnete sein Vater. »Sie verstehen nicht
mit Werkzeug umzugehen,
berichten die Kundschafter. Wenn sie Hilfsmittel benutzen, dann nur um
zu
zerstören, nicht zu erschaffen. Es wird ihnen nicht einfallen,
Schiffe zu
bauen. Aber sie werden auf dem Landweg in unser Reich
gelangen.«
»Vielleicht kehren sie um. Vielleicht wollten
sie nur Krasnar erobern.«
Seine Worte entsprangen der Hoffnung, nicht der
Überzeugung, und kaum hatte er ausgesprochen, wurde ihm auch
schon bewußt, daß
es selbst für Hoffnung keinen Grund gab.
»Sie haben Krasnar nicht erobert«,
erklärte sein
Vater mit einem tiefen Seufzer. »Sie haben es
zerstört – ganz
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