Elfenzeit 10: Fluch der Blutgräfin - Paradigi, J: Elfenzeit 10: Fluch der Blutgräfin
Schauermärchen auseinandergesetzt
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Er rieb sich über die Augen. Blinzelte. Doch anstatt in die Wirklichkeit zurückzukehren, schien er noch tiefer in die Wahnvorstellung abzudriften. Im blassen Licht des Mondes sah Robert Gestalten aus dem Boden wachsen. Nackte Mädchen, bewegungslos verkrümmt. Eis überzog ihre zu Schreckensskulpturen erstarrten Leiber. Angeekelt und gebannt zugleich ging er näher, durchwanderte das Horrorkabinett und streckte die Hand aus, um sich davon zu überzeugen, dass dies alles nur ein Traum sein konnte. Die bläulich verfärbten Körper waren übersät mit Schnitten und aufgeplatzten Wunden. Die Gesichter der Mädchen waren flehend nach oben gerichtet, als suchten sie Hilfe jenseits des Himmels. Als Robert die Eiskristalle unter seinen Fingern spürte, musste er würgen und wandte sich schaudernd ab. Doch die Schreckensvision blieb.
Weitere Schatten stiegen aus der Vergangenheit empor und brachten Bewegung in die Szene. Männer in Rüstung, Mägde mit Körben in der Hand, ein Küchenjunge. Allesamt Schaulustige des grausigen Spektakels, die Gesichter zu Fratzen verzerrt. Hämisch lachend. Geifernd. Und mitten unter ihnen – Jarosh!
Der Alte blickte zu Robert herüber, sah ihn! Und schließlich streckte er kichernd den Zeigefinger nach ihm aus.
»Wagt es nicht! Dieser Mensch gehört mir!« Annes Stimme durchzuckte einem Gewitter gleich die Dimensionen. Schnee und Gestein knirschten. Dann bröckelte die Szene ab, löste sich Stück für Stück unter dem Kreischen der Geistwesen auf und entschwand ins Dunkel der Nacht.
Der Sog drohte auch Robert mit sich zu reißen, da umschlang ihn eine unsichtbare Kraft und zerrte ihn fort, zurück ans Licht.
»Anne«, hauchte der Fotograf und starrte in ihr von schwarzen Haaren umrahmtes Gesicht, das über ihm schwebte. »Was um Himmels willen war das?«
Ihre glutvollen dunklen Augen blickten sanft in die seinen. Zärtlich strich sie eine Locke seines ungebändigten Haares zur Seite und hinter sein Ohr. »Nur eine böse Traumfantasie.«
»Traumfantasie?«
Sie lächelte.
»Aber … was ist mit diesem Kerl? Jarosh. Ich habe ihn gesehen!«
»Und ich habe dir gesagt, dass dieser Ausflug keine gute Idee ist.«
»Warum weichst du aus? Was verschweigst du mir?«
Anne, die in der Hocke neben Robert gesessen hatte, richtete sich auf. »Kannst du dem Journalisten in dir nicht einmal den Mund verbieten?« Ihre Miene wurde hart. »Und falls du es vergessen haben solltest: Wir sind zwar aneinander gebunden, aber nicht verheiratet. Ich helfe dir, das Buch fertig zu schreiben; zu mehr bin ich nicht verpflichtet.«
Da war er wieder, ihr ganz persönlicher Abgrund. Robert fühlte sich wie von einer Dampfwalze überfahren, verwirrt, orientierungslos. Was hatte das alles denn für einen Sinn? Wozu um die Gunst einer seelenlosen Frau kämpfen? Wozu dieses Buch schreiben und den unvermeidlichen Tod hinauszögern?
»Hallo? Ist etwas passiert? Kann ich Ihnen helfen?«, fragte eine angenehm sonore Stimme von irgendwoher.
Robert, der immer noch auf dem Boden lag, setzte sich auf und sah sich um. Ein paar Schritte entfernt stand ein Mann von vielleicht Mitte fünfzig, groß und schlank. Seine Haltung und die sportlich elegante Kleidung zeugten von Geld. Er hatte sie auf Deutsch angesprochen, wenngleich mit einem eindeutig amerikanischen Akzent. Also war er wahrscheinlich ein Tourist, der sich hierher verlaufen hatte.
»Nein, nein, es geht schon. Ich bin nur wieder über meine eigenen Füße gestolpert.« Robert mühte sich auf die Beine.
»Gibt nicht viel zu sehen hier, was?«, fragte der Fremde.
»Nein, nur ein paar Mauerreste.«
»Dann darf ich Ihnen vielleicht anbieten, mit mir wieder hinunter in die Stadt zu fahren? Mein Chauffeur wartet mit dem Wagen auf dem Besucherparkplatz.«
Das war in der Tat ein Angebot, das Robert nur zu gerne angenommen hätte. Andererseits erschien es ihm schon fast zu gut, um wahr zu sein. Warum sollte ausgerechnet in diesem Moment und an diesem gottverlassenen Ort ein himmlischer Limousinenservice erscheinen, um ihm den beschwerlichen Marsch nach unten zu ersparen? »Das klingt verlockend, aber ich frage mich, wieso Sie uns das anbieten sollten«, sagte er misstrauisch.
Der Fremde lächelte amüsiert und strich sich durch sein kurz geschorenes, grau meliertes Haar. »Ist man heutzutage schon verdächtig, wenn man seine Hilfe anbietet?«
»Warum glauben Sie, dass wir die benötigen?«, bohrte Robert weiter.
»Weil Sie
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