Elfenzeit 12: Ragnarök - Schartz, S: Elfenzeit 12: Ragnarök
verfolgen. Noch bevor das Zwielicht versiegt, werden wir ihn haben.«
6 Der fremde Reiter
Nadja schlief unruhig, erwachte mehrmals und hatte das Gefühl, kaum eingenickt zu sein. Seltsame Träume mit wild bewegten, verschwommenen Bildern ließen sie oft hochfahren. Dann schaute sie zum Fenster, ob sich etwa ein Wesen draußen herumdrückte. Es wäre nicht das erste Mal, auf Sizilien hatten Poltergeister sie angegriffen. Und nun war Fabio nicht da, um sie zu beschützen. Doch die dicken Vorhänge bewegten sich nicht, es schien alles in Ordnung zu sein.
Das Fest war sicher noch in vollem Gange, und Nadja überlegte, ob sie wieder hinuntergehen sollte. Aber sie fühlte sich so unglaublich müde, außerdem tat ihr Bauch weh. Sie hatte es in den letzten Tagen verdrängt, fand in dieser Nacht aber keine Ablenkung. Ihr Körper verlangte Aufmerksamkeit – die ersten Wehen hatten eingesetzt und deuteten an, dass ihr Kind plante, demnächst auf die Welt zu kommen. Auch in diesem Moment verspürte sie ein unangenehmes Ziehen und hatte das Gefühl, als würde der Bauch sich absenken und noch mehr auf ihr Becken drücken.
Talamh verhielt sich erstaunlich ruhig, anscheinend hatten ihn die letzten Ereignisse auch sehr mitgenommen. Nur ab und zu spürte sie eine Bewegung, sein Geist war verschlossen und fern. Vielleicht funktionierte der Kontakt zu ihm nur in der Anderswelt. Nadja war sicher, dass ihr Sohn wohlauf war und lediglich Kräfte zur Geburt sammelte.
Und David war nicht bei ihr, teilte den Augenblick nicht mit ihr. Niemand tat das. Sie hatte nur sich, ausgerechnet in dieser Situation. Deshalb bestand für sie kein Zweifel mehr, dass sie sich heute – Mitternacht war schon lange vorüber – um alles Nötige kümmern würde. Sie musste so schnell wie möglich nach München fliegen. Damit sie wenigstens in ihrer vertrauten Heimatstadt war, und vielleicht hatte auch Tom Zeit und Nerven für sie.
Immerhin schien sich der Sturm in Grenzen zu halten. Zwar konnte sie draußen heftiges Windrauschen hören, aber das war für isländische Verhältnisse vermutlich kaum mehr als ein harmloses Lüftchen.
Nadja gähnte, die Augen fielen ihr zu. Hoffentlich konnte sie endlich ein paar Stunden in Tiefschlaf sinken, sie brauchte dringend Erholung und neue Kräfte. Sie legte die Arme um ihren Bauch und suchte nach einer einigermaßen bequemen Haltung, ignorierte das gelegentliche krampfartige Ziehen und nahm sich fest vor, sich durch nichts mehr ablenken zu lassen.
Und beinahe hätte es auch geklappt. Sie war schon im Eindämmern, als sie Geräusche von draußen hörte, die … wie Hufklappern klangen? Zu dieser Zeit? Die Neugier packte sie, und sie zwang sich aus dem warmen, weichen Bett und tappte auf nackten Sohlen zum Fenster, schob den dicken Vorhang etwas beiseite und linste durch die Lücke.
Die Nacht war nicht ganz dunkel, aber der Himmel bewölkt. In mehreren Schichten zogen Wolken vorüber, hellere oben, dunklere, vereinzelte Ballungen unten. Immerhin war es trocken; schwach erkannte Nadja kleine weiße Punkte, die unten über die Wiese zogen.
Das Licht an der Eingangstür fiel auf den Vorplatz, und an der Hofeinfahrt vorn warf eine hohe Laterne einen Lichtkreis über die durcheinandergeparkten Fahrzeuge. Die heranführende Straße lag weitgehend in Dunkelheit, doch Nadja hatte das Gefühl, als bewegte sich etwas noch Dunkleres darauf auf den Hof zu.
Und tatsächlich schob sich plötzlich ein Pferdekopf in den Lichtkreis, dann folgte der Körper mit Sattel, in dem eine verhüllte Gestalt saß, mit lang herabhängendem Mantel und breitkrempigem Hut.
Alles in Nadja spannte sich an. Sie konnte keine Kälte spüren, und diese Fortbewegungsweise wäre auch sehr ungewöhnlich für den Getreuen. Wer also mochte der nächtliche Reiter sein? Keinesfalls ein »gewöhnlicher« Isländer, und auch sein Pferd war groß … sehr groß.
Was sollte sie jetzt tun? Fliehen, in ihrem Zustand? Lächerlich.
Ich muss mich stellen, eine andere Möglichkeit habe ich nicht
.
Der Fremde ritt bis vor den Eingang, und Nadja war überrascht, als mit einem Mal auch Ingolfir in den Lichtschein der Tür trat. Anscheinend war das Fest zwar vorüber, aber ihr Gastgeber noch wach.
Das Gesicht des Reiters wurde von der Hutkrempe verdeckt, sie konnte nichts erkennen. In der linken Hand hielt er eine Art Wanderstab, nicht so lang wie die Treiberstöcke der Vaqueros. Nadja hörte Ingolfirs Stimme, verstand aber nicht, was er sagte. Der Reiter bewegte
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