Elfenzeit 4: Der Löwe von Venedig - Schartz, S: Elfenzeit 4: Der Löwe von Venedig
sich inzwischen schwach und elend. Er begriff, dass man ihm etwas raubte. Ganz langsam wurde es ihm abgesaugt, tröpfelte aus ihm heraus. Längst hatte er es aufgegeben, sich aufzubäumen und zu wehren.
Er wusste nun, dass niemand kommen und etwas von ihm verlangen würde. Niemand würde ihm etwas zu essen oder zu trinken bringen. Er würde allein in seinem Kerker bleiben, bis er starb.
Dort draußen, außerhalb der Dunkelheit, nahm jemand seine Lebenskraft in sich auf, stahl ihm die Existenz, um sie für sich zu beanspruchen. Der Gefangene würde nie erfahren, wer so eine Grausamkeit begehen konnte. Für ihn gab es keine Hoffnung zu entkommen. Der einzige Trost, der ihm blieb, war die Suche nach seinen Erinnerungen. So lange schon war er dorthin unterwegs. Und allmählich hatte er das Gefühl, als könnte er das Ziel tatsächlich erreichen. Was zuvor dunkel und still gewesen war in seinem Verstand, wurde allmählich heller und erzeugte einen Nachhall ferner Stimmen. Je mehr Leben aus ihm tropfte, desto tiefer zog er sich in sein Inneres zurück, näherte sich dem, was er war. Er kam zu seinem Ursprung, und dort gab es eine Tür.
Schwach lehnte der Gefangene sich zurück und ließ sich treiben. Er überlegte, was er empfand, da er nun bald sterben würde. Müdigkeit, Trostlosigkeit. Kein Schmerz. Bedauern? Nein. Furcht? Nicht mehr. Doch da hatte es mehr gegeben, das wusste er, ihm fielen allerdings die Bezeichnungen dafür nicht gleich ein. An welche Gefühle erinnerte er sich am meisten?
Als er es zuließ, weiterzutreiben, und die Tür in seinem Inneren öffnete, sah er es vor sich, und er fühlte …
… die Nässe von Frühjahrsregen auf seiner Haut.
… das sanfte Zwielicht, das ihn umschmeichelte.
… das Blatt, das seine Wange streifte.
… die zarte Hand, die ihn berührte.
… dieselbe Hand, die ihn schlug.
Und plötzlich, mit einem scharfen Ruck, zwängte sich die Erkenntnis durch die Tür nach draußen, erkämpfte sich die Freiheit und durchfuhr den Gefangenen wie ein Feuerstrahl. Er bäumte sich auf, zerrte an den Ketten. Von seinem eigenen Schwung getragen, schaffte er es, aufzuspringen und sich auf die Beine zu stellen, obwohl die Ketten ihn daran hindern wollten. Und da spürte er den Boden unter sich, hörte das Rasseln der Ketten, und das Echo von der Wand. Der Kerker war klein, kein Universum. Er hatte Anfang und Ende, und die Ketten waren nur Ketten, nicht von Dauer. So wie er.
Er hob den Kopf, sog tief Luft in seine Lungen und schrie mit aller Kraft: »Ich bin Dafydd von den Sidhe Crain, Erbprinz des Baumthrons, und ich
erinnere
mich!«
5 Eine unerwartete
Begegnung
Nadja ging die Brücke in Richtung San Marco hinunter, passte sich dem Menschenstrom an und ließ sich treiben. Ihr Innerstes war wie gelähmt. Tausend Fragen kämpften um einen Platz in ihrem Verstand, doch sie war nicht in der Lage, auch nur eine Minute länger mit ihrem Vater zu verbringen, um alles zu erfahren. Ihr Leben lag in Trümmern. Bisher hatte sie den Elfen aus Freundschaft geholfen, war dabei aber distanziert geblieben. Vielleicht hatte gerade ihr Vater durch sein ewiges Schweigen ihr beigebracht, nichts zu nah an sich heranzulassen. Erst recht nicht, wenn es einen verletzen konnte.
Aber nun hatten sich die Voraussetzungen von Grund auf geändert. Nadja war nicht nur ein Grenzgänger, so wie Robert oder die Frau im Maskenladen, sie war zur Hälfte selbst Elfe. Das machte ihr Hilfsangebot zur Verpflichtung, so lange nach dem Quell der Unsterblichkeit zu suchen, bis das Überleben des Elfenvolkes gesichert war. Ihr Vater mochte sich heraushalten wollen, weil er im Streit aus der Anderswelt geflohen war, doch für Nadja galt das nicht. Weniger denn je hatte sie Einfluss auf die Entwicklung der Geschehnisse. Sie war jetzt ein Teil davon.
Welche Konsequenzen das haben würde, konnte sie sich nicht einmal annähernd vorstellen. Rian hatte offensichtlich mit Ablehnung auf die Offenbarung reagiert. Grog und Pirx schienen noch viel zu durcheinander zu sein, um sich eine Meinung zu bilden. Aber wie würde David reagieren? Er hatte von den Menschen keine hohe Meinung gehabt – wie würde er sich erst zu jemandem stellen, der zu keinem der beiden Völker gehörte?
Nadja brauchte sich keine Illusionen zu machen, dass die Elfen sie mit offenen Armen aufnehmen würden. In der Hinsicht traute sie ihnen nicht mehr als den Menschen zu, die heute noch in der angeblich so zivilisierten und von Moralbegriffen geprägten Zeit
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