Elfenzeit 6: Die wandernde Seele - Thurner, M: Elfenzeit 6: Die wandernde Seele
waren lediglich Taubheit und unendliche Müdigkeit. Gleichgültig ließ ich Sidhac tun und lassen, was immer er wollte.
Wir gelangten ins Zentrum eines von Felswänden eingeschlossenen Areals. Totenstille herrschte hier. Im Zentrum der Anlage stand ein einzelner Stein. Mannsgroß, von weißem Moos bewachsen.
»Dies ist Vonlant«, sagte Sidhac. »Er versteinerte vor ... Wie lange ist es her?«
»Laaaaange«, dröhnte eine tiefe, kaum wahrnehmbare Stimme. Es klang, als knirschten murmelgroße Kiesel gegeneinander.
»Also vor einiger Zeit.« Ich hörte die Bösartigkeit in Sidhacs Stimme. »Wenn ich mich recht erinnere, war der Beginn der Transformation nicht unbedingt schmerzfrei. Aber was tut man nicht alles, um ewiges Leben zu erringen?«
Vonlant, der Steinelf, blieb ruhig. Jedes Wort schien ihn große Überwindung zu kosten.
»Eigentlich ist der Umwandlungsprozess noch immer nicht abgeschlossen.« Sidhac legte meine Hände auf den Fels. Trotz meiner Benommenheit fühlte ich langsam fließendes Leben unter meinen Fingern. Ich meinte, ein Herz zu ertasten. Ein Bewusstsein. Unendlich verlangsamte Sinnesreaktionen.
»Vonlant war in seinen jungen Jahren ein Heiler mit außerordentlichen Fähigkeiten«, fuhr Sidhac fort. »Durch bloßes Handauflegen konnte er Wunden dazu bringen, dass sie sich schlossen. Knochen heilten, Eiter und Blessuren verschwanden. Trotz seiner Versteinerung hat er diese Gabe niemals verloren.« Er drückte mich gegen den Fels, der einstmals ein Elf gewesen war, und hievte mich mit einer unglaublichen Leichtigkeit auf dessen abgerundete Oberseite. »Wenn
er
dich nicht vor dem Tod bewahren kann, dann wohl niemand.«
»Was soll ich tun?«, fragte ich völlig verwirrt. Ich spürte Kraftlinien, die mich umgaben und wie in einem Netz einspannen.
»Nichts. Halte still, lass es geschehen.«
Jedes Geräusch versiegte. Erschreckende, absolute Ruhe umgab mich. Immer tiefer zog mich der Steinelf in seine Gedanken, in seine private und ganz eigene Welt. In ein Leben, das auf die Ewigkeit ausgerichtet war. Ich spürte, wie sehr ihn die Störung irritierte, und ich teilte seine Angst. Doch ich erkannte auch seine Bereitschaft, es zu versuchen. Vonlant
wollte
mich heilen. Er begann.
Rippen. Gebrochen. Punktierte. Lunge. Blutungen. Sehnerv. Geschädigt. Finger. Handgelenk. Bein. Schlüsselbein. Alles. Gebrochen
.
Die Gedanken kamen gequetscht, wie über einen Kamm geblasen. Und in einer Langsamkeit, die mich selbst in meinem merkwürdigen Zustand erschreckte. Ich lebte nicht, und ich war auch noch nicht im Reich der Schatten. Vonlant hatte mich vor dem Übergang abgefangen und in sein kleines, inneres Refugium geschafft. Er war wie ein Wächter an einer Brücke, die den Übergang zwischen zwei Daseinsformen darstellte, und er tat so, als wollte einen Plausch mit mir halten.
Kannst du mich heilen?
, dachte ich vorsichtig.
Wunden. Ja. Schmerz. Nein
.
Ich verstehe dich nicht, Vonlant. Wenn die Wunden zusammengewachsen sind, verschwindet auch der Schmerz
.
Anderer. Schmerz. Im. Leerraum
.
Im Leerraum?
Ich verstand den Steinelfen nicht. Was wollte er mir sagen? Dass mir ein lebenswichtiges Organ fehlte oder während der Auseinandersetzung mit der Waldsau irreparabel verletzt worden war?
Du. Hast. Leere. Unelfische. Leere. Musst. Du. Füllen. Sonst. Unglück. Unglücklich. Traurig
.
Was für ein hanebüchener Unsinn! Ich führte ein unbeschwertes Leben am Hof König Golpashs. Ich genoss Wein, Weib und Gesang, und ich vermisste nichts. Die Nächte waren ebenso erfüllt wie die Tage. Ich besaß Freunde, Jagdgefährten, Bettgenossinnen.
Halte. Inne. Denke. Nach
.
Von irgendwoher strömte Kraft. Langsam und regelmäßig. Mein Körper war zwar nicht anwesend, in diesem seltsamen Zwischenreich an der Brücke, aber ich fühlte die Verbindung zu Vonlant und gesundete bemerkenswert schnell. Mein Leib forderte mich zurück, sehnte sich nach mir, sodass wir wieder zu einer Einheit werden und gemeinsam von Neuem beginnen konnten.
Ich werde nie vergessen, dass du mir das Leben gerettet hast, Vonlant
, dachte ich in Richtung des Steinelfen.
Ich werde dir opfern, was auch immer du forderst. Aber jetzt ist es genug. Das Leben ruft mich zurück in die Wirklichkeit
.
Wirklichkeit?
Vonlant stieß einen Ton aus, der an ein Lachen erinnerte.
Anderswelt. Ist. Bloß. Ein. Aspekt. Der. Wirklichkeit
.
Der Heiler gab mich frei. Er spie mich aus, wollte mich unter keinen Umständen länger in seiner Nähe dulden. Ich
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