Elfenzeit 6: Die wandernde Seele - Thurner, M: Elfenzeit 6: Die wandernde Seele
Erfahrung gemacht, dass manche Seelen stärker als andere sind.« Der Alte deutete auf seine Finger. Sie waren zart und feingliedrig, und trotz der ungeheuren Mengen Wein, die Victorius Secundus in sich hineinschüttete, zitterten sie kein bisschen. »Manch eine konnte ich fühlen, als sie den sterbenden Leib verließ. Sie leuchteten oder sie rochen streng, sie strahlten Ausgeglichenheit oder Unrast aus. Einige lösten sich zögerlich, andere fuhren davon, als könnten sie es gar nicht erwarten, ihr körperliches Anhängsel loszuwerden.«
Fantasierte er? Man konnte eine Seele weder riechen noch spüren!
»Ein einziges Mal«, so redete er andächtig weiter, »hatte ich das Glück, einen Hauch der Unsterblichkeit selbst zu fühlen. Es war, als ich einem Bettler, der im Rinnsal der Straßen Aquileias verkam, den Schritt ins Jenseitsreich erleichterte.« Victorius Secundus schloss die Augen. »Etwas löste sich von ihm. Eine Seele, die nach Gold, nach Edelmut, nach hehren Zielen schmeckte und so ganz und gar nicht zu diesem verlotterten Körper passte. Die Seele wandte sich mir zu, fuhr in mich ein. Neugierig und interessiert. Sie tastete mein Innerstes ab, als suchte sie einen neuen Hort. Zu meiner großen Enttäuschung befand sie mich für zu alt und für zu ... uninteressant.« Er atmete tief durch. »Ich wäre so gerne von ihr auserkoren worden.«
»Du hast also eine ... wandernde Seele gespürt.«
»Eine
unsterbliche
Seele. Eine, die unsere Welt nicht verlassen wollte. Weil sie noch etwas zu erledigen hatte. Weil sie spürte, dass sie für etwas vorgesehen war und es nicht erfüllt hatte. Die Fürsorger der Stadt sagten mir, dass der Mann im Fieberwahn behauptet hätte, der älteste Sohn des oströmischen Kaisers Maurikios gewesen zu sein.«
»Theodosius. Der junge Mann, in den die Römer so große Hoffnungen gesetzt hatten. Weil man ihm zutraute, das Imperium wiederzuvereinigen.«
»So ist es. Angeblich wurde er gemeinsam mit seinen Geschwistern und dem Vater von persischen Intriganten hingerichtet. Was aber, wenn ihm die Flucht aus Konstantinopel gelungen war? Wenn ihn die Widernisse nach Aquileia verschlagen hatten und er das, was ihm vom Schicksal vorherbestimmt gewesen war, nicht erfüllen konnte? Weil sich im großen Plan der Götter ein winziger Fehler eingeschlichen hatte? Seine Seele wusste, dass sein Auftrag nicht vollendet gewesen war. Also suchte sie sich eine neue Hülle, um ihr Werk von Neuem zu beginnen.«
»Und was hat das nun mit mir zu tun?« Ich war das Geschwafel leid. Victorius Secundus’ weitschweifige Erzählungen erschienen mir interessant, aber sinnlos.
»Du, mein Freund, bist ebenfalls einer derartigen Seele begegnet«, sagte der Arzt würdevoll. »Sie hat dich berührt und in einen Schockzustand versetzt, weil du sie erkanntest. Vielleicht, weil sie irgendwann einmal dafür bestimmt war, mit dir zusammen zu sein.«
Ich ließ Barchoil holen und bat ihn, Victorius Secundus mit dem Leben in unserer Siedlung vertraut zu machen. Ein Mann, der nicht nur dem Aberglauben dieser Zeit nachhing, sondern es auch wagte, die jahrhundertealten Theorien griechischer Ärzte infrage zu stellen und eigene Wege zu beschreiten, war zweifellos eine Bereicherung für uns. Die Heilelfen würden sich um seine Trunksucht kümmern. Hoffnung und Zuversicht, die wir in Tres Porti hochhielten, sollten helfen, dem Heiler ein neues, erfülltes Leben zu schenken.
Doch was war mit mir? War meine ... Krankheit denn so einfach zu überwinden, wie es der Arzt vorgeschlagen hatte? Indem ich Julia besuchte und sie mit meinen Gefühlen konfrontierte?
Das junge Mädchen hatte ebenso schockiert wie ich auf die Begegnung reagiert. Wahrscheinlich fühlten wir dasselbe Gefühlschaos in uns toben. Die Hoffnung, Estellas unsterblicher Seele wieder begegnet zu sein und in ihr jenes Wesen gefunden zu haben, dessen Liebe ich so sehr herbeisehnte, gab mir neue Kraft. Ich bat Marcus, mir ein stärkendes Süppchen zubereiten zu lassen. So rasch wie möglich musste ich zurück zu Gaius Albus. Ich musste zu Julia.
Der Alte betrachtete mich von oben bis unten. Nach meinem überstürzten Abschied hatte er sicherlich nicht damit gerechnet, mich bereits am übernächsten Tag wiederzusehen.
Oder?
»Ich bitte dich, mein neuerliches Eindringen zu entschuldigen, Gaius Albus«, sagte ich. »Es sind beunruhigende Dinge vorgefallen, über die ich mit dir sprechen möchte.«
»Dies ist nicht der rechte Zeitpunkt dafür, Elf«, sagte der
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