Elfenzeit 6: Die wandernde Seele - Thurner, M: Elfenzeit 6: Die wandernde Seele
unserer Möglichkeiten gut geht, und ich bezahle sie zu einem beträchtlichen Teil aus den Erlösen, die meine Landwirtschaften erbringen und die ich in den umliegenden Dörfern verkaufen lasse. Es ist ein Leben, das mich keinen Moment meiner früheren Existenz im verfallenden Rom vermissen lässt.«
Wir erreichten das Ende des Bogenganges. Von hier aus blickten wir wiederum auf die See hinaus. Auf silbern glitzerndes Wasser, das den Eindruck vollkommenen Friedens darbot. Weit hinten sah ich am Ende der östlichen Landzunge unser kleines Lager. Rote Pünktchen kennzeichneten die Feuer der kleinen Kolonie.
»Du bist ein rechtschaffener Mann, das spüre ich«, sagte der Alte. »Deshalb bitte ich dich um eine ehrliche Antwort: Würdest du an meiner Stelle dieses Leben aufgeben und hinaus ins Unbekannte ziehen? Auf Ruhe und Komfort verzichten, lediglich gelockt von der
Chance
, es irgendwann einmal besser zu haben? Und das bei einer Lebenserwartung von nur noch ein paar Sommern?«
»Nein, würde ich nicht«, gestand ich. »Doch was ist mit deinen Töchtern? Was werden sie machen, wenn du einmal nicht mehr bist?«
Gaius Albus lächelte. »Fragen wir sie am besten selbst, Fiomha.«
Er zog mich mit sich fort, diesmal an der anderen Seite der Piscina vorbei in den östlichen Trakt der Villa. »Sicilla!«, rief er vor einem eichenen Tor, »geschwind! Zeige dich meinem Gast und bring deine Schwestern mit!«
»Ja, Vater«, antwortete eine raue, tiefe Stimme, gefolgt von unterdrücktem Gelächter mehrerer Frauen oder Mädchen. Offenbar hatten uns die vier Töchter des Römers bereits heimlich mit ihren Blicken taxiert.
Wir mussten mehrere Minuten warten, bevor sich die Tür öffnete und die vier Grazien hervorgeschritten kamen. Alle waren sie in bodenlange, kunstvoll geschlungene Tücher gewandet. Eine Windbö fuhr durchs Hofinnere. Sie presste die Gewänder eng an die Leiber der Frauen und gab deren makellose Figuren preis.
»Sicilla, meine Älteste«, stellte mich Gaius Albus der stattlich gewachsenen Frau vor, die als Erste den Hof betreten hatte. Ihre Augen glänzten. Sie wirkte sinnlich und voll Verlangen, neckische Wangengrübchen ließen sie attraktiv erscheinen. Dreißig Jahre mochte sie alt sein; eigentlich zu viel, um sie noch an den Mann bringen zu können. Doch sie gefiel mir auf Anhieb.
»Sieh sie dir ganz genau an, Fiomha. Du siehst selbstständige, ausgeglichene und bodenständige Frauen, die ganz genau wissen, was sie wollen. Frage sie, ob sie dieses Haus verlassen möchten. Frage sie, wie es ihnen hier geht.«
Gaia und Tullia, beide rotblond, verwirrten durch Hüftschwung und kokettes Lächeln. Sie wirkten so, als gehörten sie für alle Zeiten zusammen und marschierten gemeinsam durch dick und dünn.
»Alle vier haben die Schönheit und Klugheit ihrer Mutter geerbt, die ich erst in hohem Alter kennen- und lieben lernte und die ich mehr vermisse als alles andere auf dieser Welt.« Gaius Albus seufzte. »Ich befürchte, dass meine Töchter auch ein wenig meines eigenen Starrsinns mit auf ihren Lebensweg bekommen haben.«
Ich wanderte weiter zu Julia, der Jüngsten. Brünettes Haar umrahmte ein Puppengesicht, in dem der Schalk besonders deutlich sichtbar hervortrat. Sie war die Kleinste der vier – und dennoch wirkte sie weitaus größer. In ihr steckte etwas ganz Besonderes.
Wir blickten uns an. Lange und intensiv. Julias Lächeln verschwand, sie hielt den Atem an. Sie erschrak, wich vor Angst zurück und musste sich am Mauerwerk abstützen – gefangen in einem Schock, den auch ich fühlte.
Wir kannten uns
.
Ich erlebte die nächsten Stunden wie in Trance. Mühsam beherrscht verabschiedete ich mich von Gaius Albus, ohne seine jüngste Tochter noch eines einzigen Blickes zu würdigen. Nachdem wir die Villa Urbana verlassen hatten, setzte mich Barchoil am Steg in das kleine Boot. Er stakte das Schifflein durch sumpfiges Marschgebiet hinaus auf offenes Wasser und ruderte dann über die Lagune zurück zu unserem Lager. Barchoil sagte kein Wort; sicherlich spürte er mit seinen Sinnen, dass ich derzeit nicht in der Lage war, einen klaren Gedanken zu fassen.
Julia.
Diese kleine, etwas verwöhnt wirkende Tochter eines Römers, gerade mal 18 Jahre alt, hatte etwas ganz Besonderes an sich: Auch wenn keinerlei optische Ähnlichkeit existierte, so wusste ich doch,
dass sie Estella war
.
Wie konnte das sein? Was geschah hier? Wie kam ich auf einen derart abstrusen Gedanken? Estella war tot, war vor vielen
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