Elfenzorn
plötzlich so verlegen aus, dass er Pia schon beinahe leidtat. »Schon gut«, sagte sie rasch. »Da gibt es nicht besonders viel, was er noch nicht gesehen hat.«
Alica blinzelte, und Jesus sah nun eindeutig so aus, als wünschte er sich ein möglichst finsteres Loch, in das er hineinkriechen konnte.
»Was?«, fragte Pia, während sie mit einem Ruck den Reißverschluss herunterzog und sich aus der zerfetzten Jacke zu schälen begann. »Du hast mich doch schon oft genug im Bikini gesehen, oder etwa nicht?«
Jesus rang sich zwar zu einem knappen Nicken durch, wusste nun aber endgültig nicht mehr, wohin mit seinem Blick, und – auch wenn Pia es nicht wirklich erwartet hätte – er bekam tatsächlich rote Ohren. Der Anblick war Pia im gleichen Maße unangenehm, wie sie ihn amüsant fand … aber da war noch etwas. Vielleicht lag es am Licht, vielleicht an ihrer Erschöpfung oder an beidem zusammen, aber kurz schien es nicht mehr Jesus zu sein, dem sie gegenüberstand, sondern Lion.
Es war nicht nur die äußere Ähnlichkeit, die ohnehin so groß war, wie es überhaupt nur ging. Sie hatte noch einmal dasselbe unheimliche Gefühl wie in dem Moment, in dem sie Ter Lion zum ersten Mal gesehen hatte: Auf eine Weise, die mitWorten einfach nicht zu erklären war, gab es keine zwei Männer und hatte sie auch nie gegeben. Ter Lion war immer Jesus gewesen, so wie Jesus niemals ein anderer als Ter Lion gewesen war. Und gleichzeitig waren sie so unterschiedlich, wie es überhaupt nur ging.
Ein Gefühl tiefer Trauer überkam Pia, als ihr klar wurde, wie nahe sie Lion vielleicht für den Rest ihres Lebens sein würde, ohne ihn jemals wiederzusehen oder ihn gar berühren zu können.
Trotzig riss sie sich auch den Rest ihres Polaranzugs herunter und schlüpfte in das erstbeste Kleid, das sie in die Finger bekam. Es war ungefähr so kleidsam wie ein Sack, dafür schreiend bunt, fühlte sich aber überraschend angenehm auf der Haut an und schien so gut wie nichts zu wiegen. Hätte sie nicht noch immer so sehr nach Schweiß und ein paar noch unangenehmeren Dingen gerochen, dass es sogar ihr selbst auffiel, hätte sie sich sogar wieder halbwegs wohlgefühlt. Jetzt tat es ihr doch ein bisschen leid, das ganze Wasser getrunken zu haben. Ganz egal wie lecker die Seife auch gewesen war.
»Das sieht doch schon besser aus«, lobte Alica. »Noch ein paar Kleinigkeiten, und du bist schon fast wieder vorzeigbar.« Sie machte eine besänftigende Geste, bevor Pia auch nur dazu ansetzen konnte, zu widersprechen. »Keine Angst, nicht sofort. Ginge sowieso nicht, selbst wenn ich wollte. Die halbe Stadt steht kopf, seit sich rumgesprochen hat, dass du wieder zurück bist. Da muss eine Menge organisiert und vorbereitet werden. Und außerdem will der Rat mit dir sprechen, aber das kannst du dir ja wahrscheinlich denken.«
»Nein«, antwortete Pia. Welcher Rat?
»Ich erkläre dir alles, was du wissen musst, aber jetzt zeige ich dir erst mal deine Gemächer und versuche eine Badewanne mit heißem Wasser zu organisieren.«
Pia sparte sich jede Antwort und machte nur eine auffordernde Geste. Alica fuhr auf dem Absatz herum und ging mit schnellen Schritten voraus; nicht in Richtung Ausgang, wie sie erwartethatte, sondern zurück zur Treppe, die Jesus gerade heruntergekommen war.
Auch was diese seltsame Treppe anging, hatte sie ihr erster Eindruck nicht getäuscht. Die Stufen waren gute dreißig Zentimeter hoch, aber so schmal, dass das Hinauf- und vor allem Hinuntergehen zu einem lebensgefährlichen Abenteuer werden musste. Pia fragte sich instinktiv, wie jemand von der durchschnittlichen Größe eines WeißWalders eigentlich diese Treppe überwinden mochte.
»Schlangen«, sagte Alica.
Pia sah sie verständnislos an, und Alica wies nach unten. »Ich hab mich dasselbe gefragt, als ich das erste Mal hier war. Die Antwort ist ganz simpel, aber man muss erst mal drauf kommen. In dieser Gegend wimmelt es nur so von Schlangen, und viele davon sind giftig. Du kannst jedes Haus mit einem Graben einzäunen, ihn mit Benzin füllen und es Tag und Nacht brennen lassen, oder du baust Treppen mit so hohen Stufen. Spätestens nach der zweiten oder dritten wird es den Biestern zu lästig, und sie kehren um.« Sie zuckte mit den Schultern. »Klappt leider nicht bei Spinnen und anderem vielbeinigem Viehzeug, aber man kann nicht alles haben. Pass auf.«
Die beiden letzten Worte betrafen die Tür am oberen Ende der Treppe, die so niedrig war, dass sie sich bücken
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