Elfenzorn
etwas wie ein schaler Beigeschmack. Sie freute sich ehrlich, Jesus wiederzusehen, und sie war unendlich erleichtert, dass er nicht nur lebendig vor ihr stand, sondern auch in deutlich besserer Verfassung als das letzte Mal. Wenn Alica die Wahrheit gesagt hatte und seitdem tatsächlich nur anderthalb Tage vergangen waren, dann mussten die hiesigen Medizinmänner oder Schamanen oder wie immer sie sich auch nannten verdammt gut sein. Doch bei aller Erleichterung regte sich nun auch ihr schlechtes Gewissen. Da war etwas, was sie ihm sagen musste. Sie war es ihm einfach schuldig.
Aber nicht jetzt.
»Untersteh dich, mir noch einmal so einen Schrecken einzujagen!«, sagte sie übertrieben streng. »Wenn dir wieder mal danach ist, dich ins Bett zu legen und dich von hübschen Mädchen verwöhnen zu lassen, dann sag einfach Alica Bescheid. Ich bin sicher, dass sie da was arrangieren kann. Ist nicht nötig, dich extra niederstechen zu lassen und den sterbenden Schwan zu geben, glaub mir.«
Jesus zog eine Grimasse. »Das einzige Gesicht, an das ich mich erinnern kann, gehört einem alten Glatzkopf, der sich ständig Sorgen darüber gemacht hat, wer die Rechnung bezahlt.«
»Professor Gonzales«, erinnerte sich Pia. »Ja, ich glaube, ich verstehe, was du meinst ... aber du scheinst dich ja prächtig erholt zu haben.«
»Es geht«, antwortete Jesus. Irrte sie sich, oder wurde er immer nervöser? »Aber du hast schon recht: Dieser Kurpfuscher kann sich eine Scheibe von dem abschneiden, was die Heiler hier draufhaben. Wird noch eine Weile dauern, bis ich wieder Bäume ausreißen kann, aber vor drei Tagen hatte ich noch das Gefühl, mehr tot als lebendig zu sein.«
Und das zu Recht, dachte Pia. Jesus war tot gewesen, oder doch zumindest so gut wie. Es waren nur noch die Maschinen in Gonzales’ Klinik gewesen, die ihn am Leben erhalten hatten. Sie hütete sich aber, diesen Gedanken laut auszusprechen, denn dann hätte Jesus sie möglicherweise gefragt, was sie getan hatte, um ihn zurückzuholen, und vor dieser Frage (um genau zu sein, vor der Antwort darauf ) hatte sie Angst.
»Und wie geht es dir?«, fragte Jesus plötzlich. Er begann unbehaglich von einem Fuß auf den anderen zu treten und mit einem Mal hielt er auch ihrem Blick nicht mehr stand. Erneut fuhr er sich mit den Fingerspitzen über die Lippen.
»Bestens«, behauptete sie. »Nur was den Dresscode hier angeht, habe ich kräftig danebengelangt, fürchte ich.«
»Hm«, machte Jesus.
»Alica hat versprochen, mir andere Kleider zu bringen«, fügte sie hinzu. »Ich hoffe nur, sie bringt mir nichts aus ihrer persönlichen Kollektion.«
»Wieso?«, fragte Jesus. »Heute war sie doch ganz züchtig angezogen. Du hättest sie gestern sehen sollen.«
Auch wenn Pia gehorsam lachte – sie war nicht wirklich sicher, dass Jesus nur einen Scherz gemacht hatte. Spätestens seit ein paar Stunden war sie auch nicht mehr sicher, dass es tatsächlich unmöglich war, weniger als nichts anzuhaben.
»Aber jetzt erzähl mal«, sagte sie. »Wie ist es dir ergangen? Ich meine: Hat Alica dir erzählt, wo du hier bist und was das alles bedeutet?«
»Sie und ihr Freund haben mir eine Menge erzählt«, bestätigte Jesus. »Und ich habe noch mehr gesehen, was ich bisher noch nicht einmal für möglich gehalten hätte. Aber wenn ich ehrlich sein soll ...«
»… fällt es dir trotzdem schwer, auch nur die Hälfte davon zu glauben«, vermutete Pia, als er nicht weitersprach.
»Ich weiß ja nicht mal genau, was ich kapieren könnte«, seufzte Jesus. »Nur dass das alles ... ziemlich verrückt ist.« Er machte eine ausholende Geste. »Allein das hier … ich meine, du ... weißt, wo wir sind, oder? Ich kapier ja nicht mal ganz, wie wir überhaupt hierhergekommen sind!«
»Auf einem fliegenden Pferd«, sagte Pia. Ja, das klang überzeugend.
Jesus warf ihr auch nur einen schrägen Blick zu, schüttelte den Kopf und ging zur nächstgelegenen Wand hinüber. Pia registrierte beiläufig, dass er einen Bogen um den großen Altarstein in der Mitte des Raums machte.
»Hier«, fuhr er fort, indem er mit den Fingerspitzen über die tief in den uralten Stein gemeißelten Bilder und Ornamente strich. »Diese ganze Stadt. Ich meine, sie sieht genauso aus wie auf den Bildern! Wir sind wirklich in Chicken Pizza, oder?«
»Chichen Itza« verbesserte ihn Pia, nickte aber trotzdem. Siewaren sicher nicht in dem Chichen Itza, das sie Jesus auf Abbildungen und in Büchern gezeigt hatte, aber dieser Ort
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