Elfenzorn
musste, um sich nicht zu stoßen. Jesus, der dicht hinter ihnen ging, musste sich nahezu auf Hände und Knie sinken lassen, um hindurchzupassen. Doch der Ausblick, der sich ihnen oben angekommnen bot, lohnte die Mühe allemal.
Das Gebäude erhob sich sozusagen im Schatten der gewaltigen Sonnenpyramide und war im Vergleich zu dieser geradezu winzig, für sich genommen aber riesig – zu Hause in den Favelas wäre es das höchste Gebäude im Umkreis von Meilen gewesen – und hatte gleich zwei Besonderheiten: Das flache Dach war von einer brusthohen Mauer umgeben und bestand aus denselben klobigen Steinquadern wie alles hier. Sie waren aber nur anwenigen Stellen zu sehen, denn jemand hatte sich sehr viel Mühe gegeben, um (vermutlich tonnenweise) Erdreich hier heraufzuschaffen und eine Mischung aus verwildertem Rasen, in der Sonne halb verbrannten Blumenbeeten und einem unordentlichen Gemüsegarten anzulegen, in dessen Mitte der wuchtige rechteckige Bau stand. Er war eine vergrößerte Kopie der kubischen Wohnhäuser unten, nur dass seine Wände bunt bemalt waren, und vor der niedrigen Tür gleich vier Männer mit Schild und Speer Wache hielten, die spitze Helme aus schwarzem Eisen und schwere Rüstungen aus demselben Material trugen. Bei den Backofentemperaturen hier oben war das ganz bestimmt kein Vergnügen.
Die zweite Besonderheit war die Aussicht. Unter normalen Umständen wäre sie vermutlich nicht einmal sehr spektakulär gewesen, nicht in der Nachbarschaft einer Pyramide, deren Erbauer sich alle Mühe gegeben hatten, den Himmel anzukratzen – aber an diesem Tag war nichts normal.
Die Straßen waren schwarz (um genau zu sein: kunterbunt) vor Menschen, die sich zu Tausenden ringsum drängten, wenn nicht zu Zehntausenden, und Pia hatte das unangenehme Gefühl, dass jedes einzelne Augenpaar dort unten sie anstarrte.
Und sie war kaum an die niedrige Brüstung herangetreten, da wurde aus diesem Gefühl Gewissheit, denn die ganze gewaltige Menge begann zu jubeln und zu applaudieren.
»Was – ?«, murmelte Pia verwirrt.
Sie konnte Alicas breites Grinsen beinahe hören, noch bevor sie sich auch nur halb zu ihr herumgedreht hatte. Der Jubel, der frenetische Applaus und das Toben der Menge nahmen immer noch weiter zu, und Alica musste nun fast schreien, um sich verständlich zu machen. Trotzdem war der spöttische Unterton in ihrer Stimme unüberhörbar, als sie sich mit einem breiten Feixen und nun noch spöttischerer Gestik verbeugte und sagte:
»Und noch einmal und jetzt ganz offiziell: Willkommen zu Hause, Erhabene.«
XIII
W enn es in den letzten Tagen etwas gegeben hatte, wonach sie sich mehr als nach allem anderen sehnte, dann war es menschliche Gesellschaft gewesen, und allen voran natürlich die Jesus’ und Alicas, doch dieser Wunsch blieb – zumindest für den Rest dieses Tages – unerfüllt; wenigstens der Teil, in dem sie allein mit Jesus war. Alica hatte sich nicht nur völlig unverhohlen über ihr fassungsloses Gesicht amüsiert, während sie hinter der steinernen Brüstung stand und den Jubel der immer noch weiter anwachsenden Menge entgegennahm, sondern auch darauf bestanden, dass sie dort eine geraume Weile blieb. Mindestens vier- oder fünfmal hatte Pia versucht, sich zurückzuziehen, und genauso oft hatte Alica sie mit einem Kopfschütteln (und immer nur noch wachsender Schadenfreude) daran gehindert. Sie hatte keine Ahnung, wie lange es dauerte – vielleicht Stunden, vielleicht auch nur Minuten, die ihr aber wie eine Ewigkeit vorkamen – und in all der Zeit gelang es ihr noch immer nicht wirklich zu begreifen, was hier überhaupt geschah. Und wie auch?
Nach einer Zeit, die ihr nicht nur wie eine Ewigkeit vorkam, ließ Alica es endlich gut sein, bedeutete ihr mit einer Kopfbewegung, von der Brüstung zurückzutreten, und begleitete sie in das bizarre Penthouse, das sich hinter ihnen auf dem flachen Dach erhob. Die beiden in schwarzes Eisen gehüllten Riesen, die den Eingang bewachten, traten respektvoll und mit gesenkten Häuptern beiseite, um sie passieren zu lassen, aber Pia konnte ein rasches Schaudern dennoch nicht ganz unterdrücken, als sie an ihnen vorbeiging. Alicas vertrautes Verhältnis zu Eirann und den anderen Schattenelben machte ihr natürlich klar, dass diese groß gewachsenen Krieger offensichtlich ihre Verbündeten waren, aber sie hatte ihr letztes Zusammentreffen mit Männern wie diesen noch nicht vergessen.
Irgendwann während ihrer einseitigen Audienz war ihr Jesus
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