Elfenzorn
ihrem Gesicht schon längst getrocknet hatte. Trotzdem war ihr immer noch warm, und da sie keinen Grund hatte, an Alicas Worten zu zweifeln, gab es auch keinen Grund mehr, weiter diesen nun wirklich unpassenden transportablen Backofen zu tragen. Sie griff nach dem Reißverschluss und begann ihn herunterzuziehen, doch das Gefühl, nicht mehr allein zu sein und angestarrt zu werden, ließ sie nicht nur mitten in der Bewegung innehalten, sondern ihn dann auch mit einem Ruck wieder nach oben ziehen und auf dem Absatz herumfahren. Ihre andere Hand tastete nach dem Griff der Magnum, die sie unter der Jacke trug.
Ihr Gefühl hatte sie nicht getäuscht. Sie war nicht mehr allein. Auf der Treppe am anderen Ende des Raumes war eine dunkle Gestalt erschienen, die vollkommen reglos dastand und sie anstarrte. So viel zu Alicas Behauptung, dass niemand hier hereinkam, den sie nicht ausdrücklich dazu aufgefordert hatte.
»Wer ist da?«, fragte sie. Ihre Stimme klang sonderbar dumpf in dem großen, leeren Raum, rief aber trotzdem eine Anzahllang anhaltender gebrochener Echos in den Schatten hervor, die sich seltsamerweise wie die Echos vollkommen anderer Worte anhörten. Die Gestalt antwortete nicht, und zunächst rührte sie sich auch nicht, aber Pia glaubte ihre durchdringenden Blicke beinahe schon mit körperlicher Intensität zu fühlen. Sie wiederholte ihre Frage nicht, sondern zog die schwere Waffe, hielt sie mit beiden Händen und musste etliches an Kraft aufwenden, um den Hahn zurückzuziehen. Das Klicken hallte wie ein Peitschenschlag durch das Halbdunkel, und auch dieser Laut rief ein Echo hervor, das ihr vollkommen falsch erschien.
Dann hörte sie ein Geräusch, das ihr nur zu bekannt vorkam: ein dunkles, sehr gutmütiges Lachen, und dann eine Stimme, die ihren Namen nannte. »Pia?«
»Jesus?«, murmelte sie.
In der nächsten Sekunde ließ sie die schwere Waffe einfach fallen, raste los und durchquerte den großen Raum mit wenigen, weit ausgreifenden Sätzen, um sich mit solchem Ungestüm an seinen Hals zu werfen, dass selbst der Zwei-Meter-Riese wankte und um ein Haar das Gleichgewicht verloren hätte.
»Jesus! Du lebst! Kronnseidank, du bist am Leben!«
»Ja, aber vielleicht nicht mehr lange, wenn du so weitermachst!« Jesus machte sich lachend und mit schon etwas mehr als sanfter Gewalt aus ihrer stürmischen Umarmung los und musste sie gleich darauf schon wieder mit beiden Armen auf Abstand halten, denn sie machte sofort Anstalten, sich wieder auf ihn zu stürzen, um ihn zu drücken und zu herzen und sein Gesicht mit Küssen zu bedecken.
Als er eine halbe Sekunde lang unaufmerksam war, tat sie auch genau das: Mit einem Satz war sie wieder bei ihm, schlang erneut die Arme um seinen Hals und zog ihn schon fast gewaltsam zu sich herab, um ihn lange und stürmisch zu küssen.
Im allerersten Moment war Jesus einfach nur perplex, und für den Bruchteil eines Atemzuges fühlte es sich beinahe so an, als wollte er sie von sich stoßen. Aber nur ganz kurz, dann geschahdas genaue Gegenteil, und plötzlich war es Jesus, der sie mit aller Kraft an sich zog und seine Lippen so fest auf ihren Mund drückte, dass sie nicht nur das Gefühl hatte, keine Luft mehr zu bekommen, und sich mit einiger Mühe aus seiner Umarmung losmachte und einen halben Schritt zurückwich.
»Jesus!«, sagte sie noch einmal atemlos. Ihr Herz klopfte, und hinter ihrer Stirn lieferten sich widerstrebende Gefühle und Gedanken einen stummen Kampf. »Du lebst, und es geht dir gut! Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie erleichtert ich bin!«
»Ja, das ... ähm ... merke ich«, antwortete Jesus verstört. »Und womit ... öh ... habe ich das verdient, wenn ich fragen darf ?«
Pia war einen Augenblick lang einfach nur verwirrt; vor allem, als sie sah, wie Jesus die Hand hob, seine Lippen betastete und anschließend seine Fingerspitzen ansah, als erwartete er etwas ganz Bestimmtes darauf zu sehen. Und wenn sie es recht bedachte, dann hatte er sich auch reichlich ungeschickt angestellt, als sie sich geküsst hatten. So, als hätte er nicht besonders viel Erfahrung mit so etwas, um nicht zu sagen: gar keine. Konnte es sein, dachte sie, dass er noch ...?
Nein, sie dachte diesen Gedanken vorsichtshalber gar nicht zu Ende, sondern antwortete mit einiger Verspätung: »Vor lauter Freude, dich wiederzusehen?«
»Wenn das so ist«, erwiderte Jesus linkisch, »dann sollten wir uns vielleicht öfter mal trennen.«
Pia lächelte zwar, aber da war trotzdem
Weitere Kostenlose Bücher