Elfenzorn
noch größeres Zimmer. Auch hier gab es nur ein einziges Möbelstück; einen Tisch von wahrhaft gewaltigen Dimensionen, der jedem Rittersaal in einer euopäischen Burg zur Ehre gereicht hätte. Hier, in einer Umgebung, in der die Menschen durchschnittlich so groß waren wie zwölfjährige Kinder, wirkte er geradezu absurd. Es gab mindestens ein Dutzend Stühle, die mit aufwändigen Schnitzereien verziert waren, und die beiden, die sich an den Kopfenden der Tafel gegenüberstanden, wären mit ihren hohen Lehnen und verschnörkelten Armstützen glatt als Thronsessel durchgegangen. Ein wenig erinnerten sie Pia an den Lavathron, den sie im schwarzen Turm in WeißWald gesehen hatte. Es war keine angenehme Erinnerung.
Alica – ausnahmsweise einmal ohne Zigarillo – erwartete sie bereits ungeduldig. Sie hatte sich umgezogen und trug jetzt ein paar Quadratzentimeter Leder mehr am Körper (nicht viel), und irgendwie hatte sie in der kurzen Zeit das Kunststück fertiggebracht, ihr Haar zu zwei dicken rabenschwarzen Zöpfen zu flechten, die bis weit über ihre Schultern herabfielen; weiter, als sie eigentlich sollten, dachte Pia leicht verwirrt. Sie trug einen seltsamen Kopfschmuck aus grünen und roten Vogelfedern, der eigentlich hätte albern aussehen müssen, es aber nicht tat. Außerdem hatte sie sich geschminkt, auf eine Art, wie Pia es noch nie zuvor gesehen hatte, ziemlich exotisch, aber hübsch.
Alica ließ die Musterung geduldig über sich ergehen und nutzte ihrerseits die Zeit, sie unverhohlen kritisch von Kopf bisFuß zu betrachten. Was sie sah, schien sie ihrem flüchtigen Stirnrunzeln nach zu schließen nicht hundertprozentig zufriedenzustellen, schließlich aber nickte sie dennoch und gab Sonja einen Wink. »Bitte unsere Gäste herein.«
Das Mädchen ging, und Alica war mit zwei schnellen Schritten neben Pia und begann mit spitzen Fingern an ihrer Kleidung herumzuzupfen, um etliches von dem wieder rückgängig zu machen, was sie gerade so mühsam arrangiert hatte. Pia zog die linke Augenbraue hoch, und Alica beantwortete ihre unausgesprochene Frage:
»Für den Moment ist das in Ordnung. Jeder hier weiß, dass wir dich im Dschungel aufgelesen haben und dass du eine ziemlich schwere Zeit hinter dir hast. Aber wir müssen dir andere Kleider besorgen.«
»Das ist die erste wirklich gute Idee, die du heute hast«, pflichtete ihr Pia bei.
»Und wir müssen uns etwas für dein Haar einfallen lassen«, fuhr Alica unbeeindruckt fort.
»Wir könnten es schwarz färben«, schlug Pia vor. »Oder grün.«
Alica ignorierte das. »Es sieht aus wie ein nasser Lappen. Und deine Frisur war noch nie eine.« Sie seufzte. Tief. »Da kommt noch eine Menge Arbeit auf uns zu, fürchte ich.«
»Also, ich gefalle mir eigentlich ganz gut so, wie ich bin«, antwortete Pia.
»Ja, das dachte ich mir«, erwiderte Alica. »Und da, wo du gerade herkommst oder in Bracks gemütlichem Etablissement in WeißWald war das ja auch in Ordnung, aber hier bist du eine Prinzessin, vergiss das nicht. Du kannst nicht rumlaufen wie eine Magd.«
Warum eigentlich nicht?, fragte sich Pia, kam aber nicht dazu, diese Frage auch laut zu stellen und damit eine vermutlich ebenso endwie fruchtlose Diskussion vom Zaun zu brechen, denn in diesem Augenblick kam Sonja bereits zurück und führte den ersten der angekündigten Gäste herein.
Zu sagen, dass sein Anblick Pia überrascht hätte, wäre untertrieben gewesen. Sie wusste selbst nicht, wen sie erwartet hatte – doch hinter dem Mädchen mit dem unaussprechlichen Namen stürmte niemand anderer als Jesus herein. Er hatte sich umgezogen und anders als am Vormittag trug er nun schlichte Hosen, ein kurzärmeliges, weit geschnittenes Hemd und dazu kniehohe Stiefel, alles in einem matten Schwarz, was ihm auf den ersten Blick eine frappierende Ähnlichkeit mit Eirann und seinen Schattenelben verlieh. Er sah ein bisschen gehetzt aus, und Pia fiel erst jetzt auf, dass er leicht humpelte. Ganz so groß war das Wunder, das die Heiler hier vollbracht hatten, also wohl doch nicht. Jesus’ Gesichtsausdruck passte zur Farbe seiner Kleidung – und der Alicas nach einer weiteren Sekunde auch.
»Bitte verzeiht, Herrin!«, stammelte Sonja. »Ich habe versucht, ihn aufzuhalten, aber –«
Alica unterbrach sie mit einer Geste und wandte sich mit einem gezwungenen Lächeln an den (offensichtlich ungeladenen) Besucher. »Jesus«, begann sie. »Schön, dich zu sehen, aber das ist jetzt wirklich ein bisschen
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