Elfenzorn
wie gerade bei Alica.
Kukulkan bedachte sie nur mit einem Lächeln, für das sie ihm am liebsten die wenigen Zähne eingeschlagen hätte, die er noch besaß, und folgte darüber hinaus wortlos den Indios, die selbst zu viert sichtlich Mühe hatten, mit Jesus’ enormem Gewicht auf der Bahre zurechtzukommen. Pia folgte ihm so dichtauf, dass sie achtgeben musste, ihm nicht in die Fersen zu treten.
So endlos ihr der zurückliegende Tag vorgekommen sein mochte, so schnell schien die Nacht verflogen zu sein. Der Himmel war klar und vollkommen wolkenlos und mit Millionen winziger blinzelnder Nadelstiche aus Licht übersät, als sie aus dem Haus traten, aber über dem Dschungel im Osten hatte das tiefe Schwarz der Nacht schon wieder einen sichtbaren Stich ins Graue bekommen. Es war überraschend kühl, das war das Erste, was ihr auffiel. Und als Zweites die Stille. Die gewaltige Pyramidenstadt hatte den ganzen Tag über von den Stimmen derFeiernden widergehallt, von Musik und Gesang und ausgelassenem Lärm – jetzt herrschte ein schon fast unheimliches Schweigen, obwohl die Straßen nach wie vor voller Menschen waren. Zu Hunderten säumten sie den kurzen Weg, den sie nahmen, und da, wo sie entlanggingen, wurde die Stille noch tiefer und schnürte einem den Atem ab.
Pia nahm von alledem kaum etwas wahr. Sie ging neben der Trage mit Jesus her und versuchte nicht, ihn anzufassen oder auch nur mit Kukulkan oder Alica zu reden, wusste sie doch, dass sie ohnehin keine Antwort bekommen würde. Aber sie redete sich zumindest ein, dass Jesus ihre Nähe spürte, und sie würde keine Sekunde von seiner Seite weichen, ganz egal, wohin sie ihn brachten, und ganz gleich, was der Schamane auch mit ihm vorhatte. Sie glaubte Alica das, was sie über die angeblichen Heilkräfte des alten Priesters erzählt hatte, denn sie hatte ja schließlich mit eigenen Augen gesehen, wie unvorstellbar schnell Jesus sich erholt hatte. Dennoch nahm sie sich vor, sehr genau über ihn zu wachen und selbst einzugreifen, wenn es ihr notwendig erschien; konkurrierende Magie und drohende Religionskriege hin oder her.
Als sie sich jedoch der gewaltigen Treppe näherten, die zur Spitze der Sonnenpyramide hinaufführte, beschleunigte der Alkalde seine Schritte, ging rasch an ihr vorbei und vertrat ihr dann den Weg. »Es tut mir leid, Prinzessin, aber weiter könnt Ihr uns nicht begleiten.«
»Wieso?«, fragte Pia empört. »Ich werde ganz bestimmt nicht –«
»Eure Magie ist dort nicht willkommen«, unterbrach sie Kukulkan. In den Worten klang nicht die mindeste Spur von schlechtem Gewissen mit oder gar einer Entschuldigung. »Nur der Diener der Großen Schlange darf den Tempel betreten.«
»Du glaubst doch nicht im Ernst –«, begann Pia zornig und fuhr dann mit einer abrupten Bewegung herum, als Alica hinter sie trat und ihr die Hand auf die Schulter legte.
»Bitte, Pia«, sagte Alica. »Er weiß, was er tut.«
Pia fragte sich, ob Alica wusste, was sie tat, doch bevor sie diese Worte laut aussprechen und damit wohl endgültig einen Streit vom Zaun brechen konnte, begegnete ihr Blick dem Eiranns, der hinter Alica stand. Vielleicht zum allerersten Mal, seit sie dem Schattenelben begegnet war, glaubte sie tatsächlich so etwas wie eine Emotion in seinen Augen zu lesen. Eirann wirkte erschrocken. Sie sah auch, wie hin- und hergerissen er war. Da war bedingungsloses Vertrauen und fast ebenso bedingungsloser Gehorsam in seinem Blick, und zugleich auch etwas wie Entsetzen.
Und plötzlich begriff sie, dass es hier längst nicht mehr nur noch um ihre Sorge um Jesus ging.
Sie musste wieder daran denken, wie nervös und angespannt Alica gestern Nachmittag gewesen war, als sie den Alkalden zum ersten Mal getroffen hatte. Sie hatte nach wie vor nicht die geringste Ahnung, welche Rolle sie hier wirklich spielte, doch mit einem Male war ihr klar, wie wichtig Kukulkan hier war. Er war mehr als ein alter Medizinmann, der bunte Federmäntel liebte und sich gerne wichtigmachte. Was hier gerade drohte, das war mehr als nur eine kleine Meinungsverschiedenheit, es war ein Machtkampf.
War es klug, dem Ganzen auszuweichen?
Sie sah wieder auf Jesus hinab, und ihr Herz schien zu einem harten, kalten Stein in ihrer Brust zu werden, als ihr erneut auffiel, wie blass er war. Im schwachen Mondlicht wirkte seine Haut jetzt grau, und sosehr sie sich auch anstrengte, konnte sie das Heben und Senken seiner Brust nicht mehr sehen.
Aber vielleicht war das Schlimmste überhaupt die
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