Elfenzorn
Seine Augen waren geschlossen, was Pia mit deutlicher Erleichterung registrierte – wenn die Augen wirklich die Fenster zur Seele waren, wie man behauptete, dann hatte sie für einen Tag in genug Fenster geblickt, die nur noch in leere Gebäude führten –, aber sein Gesicht war grau wie das eines Sith, und sie konnte ihm seinen erbärmlichen Zustand deutlich ansehen. Die Wunde, die sie ihm zugefügt hatte, war schwer, aber ganz gewiss nicht tödlich gewesen, wenigstens nicht sofort.
Wieder zitterte die Drakkensang , noch heftiger und länger als zuvor, und als Pia erschrocken hochsah, erkannte sie auch den Grund: Lion hatte sich wieder hochgestemmt, sein Schwert aber nicht wieder aufgenommen, sondern stattdessen eines der langen Ruder aus seiner Halterung gerissen und benutzte es, um das Schiff mit einer gewaltigen Kraftanstrengung vom Ufer abzustoßen. Mindestens ein Dutzend Krieger in schwarzem Eisen taten ihr Möglichstes, um ihn daran zu hindern, indem sie nach dem Ruderblatt traten oder mit ihren Schwertern darauf einschlugen, und sie benötigten auch nur wenige Augenblicke, um das morsche Holz einfach in Stücke zu schlagen.
Mehr Zeit hatte Lion aber auch nicht gebraucht. Schon seine ersten zwei oder drei kraftvollen Stöße hatten ausgereicht, um die Drakkensang aus ihrer tausend Jahre alten Ruhe zu reißen. DasSchiff schwankte und ächzte, als wollte es jeden Moment einfach auseinanderfallen, aber sein Heck drehte sich auch ebenso langsam wie beharrlich vom Ufer weg. Ein weiteres Ruder zerbrach, als es sich an irgendeinem Hindernis unter der Wasseroberfläche verfing, und Lion warf den zwei Meter langen Stumpf in seinen Händen nach einem der Elbenkrieger am Ufer – der dem improvisierten Wurfgeschoss allerdings ohne die geringste Mühe auswich. Dennoch waren sie in Sicherheit. Für den Augenblick.
Lion maß das gute Dutzend spitz behelmter Krieger noch einmal mit einem Blick, der um etliches finsterer war als die Farbe ihrer Rüstungen, kam dann aber zu ihr zurück und ließ sich mit zusammengebissenen Zähnen neben ihr auf die Knie fallen. Er gab sich alle Mühe, sich nichts anmerken zu lassen, aber sein Blick flackerte unstet, und seine Mundwinkel bebten vor Schmerz. Blut lief unter seiner Rüstung an seinem Arm herunter und tropfte neben ihr auf die versteinerten Deckplanken.
»Saubere Arbeit«, sagte er mit einer Kopfbewegung auf den toten Elbenkrieger.
Pia musste sich beherrschen, um ihn nicht anzufahren. Der Elb war zweifellos ihr Feind gewesen und hatte genauso zweifellos versucht, Lion und sie umzubringen, aber sie fand es trotzdem schrecklich, so über ihn zu reden. »Das war ich nicht«, sagte sie spröde.
Lion warf einen bezeichnenden Blick auf das durchstochene Bein des Kriegers und runzelte die Stirn. Pia fügte noch hinzu: »Ich habe ihn verwundet, aber nicht umgebracht.«
»Und das hat ihn getötet«, sagte Lion. Er griff nach seiner schmerzenden Schulter, verzog die Lippen und beugte sich dann weiter vor, um das eingefallene Gesicht des Toten zu betrachten. »Allerdings sieht der Bursche ganz so aus, als wäre er schon tot zusammengebrochen, wenn du einmal kräftig Buh! gemacht hättest.«
Pia, die schon wieder schmerzhaft jeden einzelnen Knochen im Leib spürte, hätte es vielleicht etwas anders ausgedrückt, aberim Prinzip hatte er natürlich recht. Es war viel zu leicht gewesen. Lion war möglicherweise der stärkste Mann, der ihr jemals begegnet war, und Eiranns Zorn die gewaltigste Klinge aller Zeiten, aber die Elben waren auch die besten Krieger gleich zweier Welten, und es hätte ihnen niemals möglich sein dürfen, mehr als ein halbes Dutzend von ihnen einfach so zu überwältigen, Zauberschwert und Kraft wie ein Ochse hin oder her.
Das konnte nur am Silber liegen.
Sie sah wieder zu den Elbenkriegern am Ufer zurück. Ihre Zahl war noch einmal angewachsen – mindestens auf zwanzig, schätzte sie, wenn nicht deutlich mehr –, aber sie standen jetzt einfach nur da und sahen zu ihnen herüber. Was sollten sie auch tun? Die Drakkensang entfernte sich langsam, aber stetig weiter vom Ufer, und es gab keine Möglichkeit mehr für sie, das Schiff noch einzuholen.
Aber vielleicht mussten sie das ja auch gar nicht.
»Sieht so aus, als wären wir unsere spitzohrigen Freunde los«, sagte Lion. »Wenigstens etwas.«
»Hm«, machte Pia.
»Hm?«, wiederholte Lion.
Pia drehte sich langsam um und versuchte das graugrüne Zwielicht hinter sich mit Blicken zu durchdringen, allerdings
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