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Elfenzorn

Elfenzorn

Titel: Elfenzorn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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auftauchte.
    Schüsse und Schreie wurden noch lauter, doch Pia spürte auch, dass ihr Vorsprung wuchs.
    Sie wurde trotzdem nicht langsamer, sondern raste durch den weitläufigen Garten, tauchte manchmal wie ein flackernder Schemen im Sonnenlicht auf, verschwand dann aber wieder in den Schatten dazwischen. Schließlich kletterte sie so schnell und behände über den drei Meter hohen Gartenzaun, dass es ihrer Fähigkeit, mit den Schatten zu verschmelzen, nicht einmal mehr bedurft hätte, um sie für die Kameras auf den Zaunspitzen nahezu unsichtbar werden zu lassen.

III
    P ia konnte sich nicht erinnern, die Dämmerung jemals so sehr herbeigesehnt zu haben wie in diesem Moment.
    Sie konnte sich auch nicht erinnern, jemals so schnell und so lange und so weit gerannt zu sein. Sie war erst langsamer geworden, als ihre Lungen wie Feuer brannten und mit ihrer Seite um die Wette zu stechen begonnen hatten, ihr Herz zu explodieren schien und sie buchstäblich die Wahl gehabt hatte, stehen zu bleiben oder noch zwei oder drei Schritte zu tun und dann zusammenzubrechen. Und selbst dann hatte sie noch einmal gute zehn Minuten verstreichen lassen, bevor sie es gewagt hatte, auch ihr Versteck in den Schatten zu verlassen und wieder sichtbar zu werden. Jetzt saß sie in einem kleinen, nicht besonders gut besuchten Straßencafé in einer der besseren Gegenden Rio de Janeiros, nippte von Zeit zu Zeit an dem höllisch heißen schwarzen Espresso, den sie sich bestellt hatte, und wartete darauf, dass die Sonne unterging.
    »Ist alles in Ordnung, Senhorita?«
    Pia schrak so heftig aus ihren Gedanken hoch, dass sie gegen den kleinen Bistrotisch stieß und ein weithin hörbares Klappern und Klirren auslöste, blinzelte eine geschlagene halbe Sekunde lang in ein ihr vollkommen unbekanntes Gesicht hinauf und begriff erst dann, dass es dem Kellner gehörte, der ihr gerade den Espresso gebracht hatte.
    »Wie?«, murmelte sie.
    »Ist alles in Ordnung?«, wiederholte der Kellner. »Bitte entschuldigen Sie. Ich frage nur, weil Sie …« Seine eigenen Worte schienen ihm plötzlich peinlich zu sein. Er sprach nicht weiter, sondern machte nur eine Kopfbewegung auf die Kaffeetasse in ihrer Hand. Sie war leer, und Pia begriff erst im Nachhinein, dass sie das nicht nur schon seit mindestens fünf Minuten war, sondern sie sie auch seitdem in der Hand hielt und mit leeremBlick ins Nichts starrte. Sie hatte das kleine Café ganz bewusst ausgesucht, weil es so gut wie leer war, aber jetzt musste sie sich eingestehen, dass das eine ziemlich blöde Idee gewesen war. In einem gut besuchten Café wäre sie weit weniger aufgefallen.
    Aber von dort aus hätte sie auch keinen so guten Blick auf das Krankenhaus gehabt.
    »Entschuldigen Sie, Senhorita.« Der Kellner räusperte sich unbehaglich. »Das geht mich nichts an.«
    »Stimmt«, antwortete Pia, bedauerte ihren groben Ton augenblicklich und fügte mit einem bewusst verlegenen Lächeln und einem Heben ihrer Tasse hinzu: »Kann ich noch einen haben … bitte?«
    »Selbstverständlich.« Der Kellner verschwand, ohne ihr seinerseits mit einem Lächeln oder wenigstens einem entsprechenden Blick Absolution für ihren pampigen Ton erteilt zu haben, und Pia sah ihm einen Moment lang mit gemischten Gefühlen nach. Sie war zornig auf sich selbst, gerade offensichtlich eine vollkommen neue Definition des Wortes unauffällig kreiert zu haben, aber sie hatte auch ein schlechtes Gewissen dem Kellner gegenüber. Einschließlich des Espresso, den sie gerade bestellt hatte, würde sie ihn um drei Tassen betrügen müssen. Das war lächerlich; ein Betrag, den er selbst an einem schlechten Tag (wie etwa heute) in einer Stunde mit seinem Trinkgeld wieder hereinholen würde, und außerdem spürte sie, dass er nicht besonders ehrlich war und seine Gäste vermutlich betrog. Aber sie hatte Zechprellerei schon immer verabscheut; und Zechpreller noch viel mehr. Die meisten Kellner (zumindest in der Gegend, in der sie aufgewachsen war) waren arme Schlucker, die sich jeden Cent redlich verdienen mussten.
    Aber sie hatte keine andere Wahl. Bargeld gehörte leider nicht zu der Grundausstattung, die José Peralta für sie bereitgestellt hatte.
    Und eigentlich, rief sie sich selbst in Gedanken zur Ordnung, war dieses schlechte Gewissen genauso unangebracht wieverlogen. Sie hatte auf dem Weg hierher bereits einen Taxifahrer und den Besitzer eines Handys geprellt – den einen um seinen Fahrpreis, indem sie zwar ausgestiegen und um den Wagen

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