Elfenzorn
Leute in den Buchhaltungen leisten wahrscheinlich auch einen Eid, der den der Ärzteschaft aufhebt«, vermutete Pia. Die Sonne ging jetzt immer schneller unter, und die Schatten kletterten so rasch und lautlos an dem weißen Marmorbau empor, dass es aussah, als versänke er in einem grauen, Farben verzehrenden Sumpf. Es wurde Zeit.
Der Kellner blieb noch einige Sekunden neben ihr stehen. Er schien darauf zu warten, dass sie noch irgendetwas sagte, und Pia hätte das auch gerne getan. Er schien nett zu sein; nicht nur, weil er ihr den Kaffee geschenkt hatte. Es tat einfach gut, zur Abwechslung einmal mit einem Menschen zu sprechen, der sie nicht umbringen, entführen, vergewaltigen, ausrauben oder benutzen wollte (hatte sie etwas vergessen?), sondern einfach nur ein paar Worte plaudern, und gerade deshalb sagte sie nichts mehr. Seit jener verhängnisvollen Nacht, in der Jesus und sie auf die Schnapsidee gekommen waren, ihre Nasen in ein gewisses Drogengeschäft zu stecken (vergangene Nacht, um genau zu sein, auch wenn für sie seither Wochen verstrichen waren. Es war reiflich verwirrend, in zwei unterschiedlichen Zeitströmen zu leben), schien sie mit einem Fluch belegt zu sein, der nicht ihr, aber so ziemlich jedem, der ihren Weg kreuzte, den Tod oderSchlimmeres brachte. Sie wollte nicht, dass ihm auch noch etwas zustieß, nur weil er dumm genug gewesen war, nett zu ihr zu sein.
Der Kellner wartete nicht, bis der Moment wirklich peinlich wurde, sondern trat mit leicht enttäuscht wirkendem Gesicht den Rückzug an, und Pia ließ noch einige wenige Minuten verstreichen, in denen sie einfach nur dasaß und den weißen Marmorbau auf der anderen Straßenseite ansah. Nichts war im Augenblick für sie so kostbar wie Zeit. Vielleicht war Jesus schon tot, vielleicht starb er gerade jetzt, während sie hier saß und Kaffee trank, aber irgendetwas in ihr schrak beinahe panisch davor zurück, die Straße zu überqueren und zu ihm zu gehen. Was, wenn er genau dann starb, in dem sie sein Zimmer betrat? Was, wenn sie nur noch ein leeres Bett vorfand, und was – die allerschlimmste und vielleicht nicht sehr wahrscheinliche, aber keineswegs unmögliche Alternative – wenn ihr unheimlicher Verfolger wieder auftauchte und sie ihn geradewegs zu Jesus führte?
Aber wahrscheinlich war sie einfach nur feige.
Sie ließ weitere zwei oder drei Minuten verstreichen und fand nun beim besten Willen keine Ausrede mehr, weiter hier herumzusitzen und darauf zu warten, dass das Schicksal ihr die Entscheidung abnahm. Sie leerte ihre Tasse (nach den Unmengen Kaffee, die sie heute bereits in sich hineingekippt hatte, kam ihr das Zeug allmählich zu den Ohren raus, aber nach der Freundlichkeit des Kellners brachte sie es einfach nicht über sich, ihn stehen zu lassen), stand auf und nickte ihrem Wohltäter noch einmal zum Abschied zu, bevor sie sich an das gar nicht so kleine Abenteuer wagte, die sechsspurige Straße zu überqueren. Sie war nicht einmal besonders stark befahren, nicht für diese Tageszeit und nicht für Rio, aber ihr erster Schritt auf die Fahrbahn hinaus wäre zugleich auch beinahe ihr letzter gewesen.
Ein wütendes Hupen erscholl, und etwas Grünes und sehr Großes schoss so dicht an ihr vorbei, dass der Luftzug ihre Haare durcheinanderwirbelte. Kein Ork, sondern ein grüner Pick-up, dessen Fahrer ihr einen wütenden Blick zuwarf und reinprophylaktisch noch einmal auf die Hupe drückte, aber Pia erteilte sich in Gedanken trotzdem einen scharfen Verweis: Ein Zusammenprall mit einem Wagen konnte genauso tödlich sein, und zumindest im Moment gab es davon hier eindeutig mehr, als sie Orks in WeißWald gesehen hatte. Wie es aussah, war ihre Neigung zu einer gewissen Unordentlichkeit nicht die einzige schlechte Angewohnheit, die sie mit zurückgebracht hatte. Sie war einfach auf die Straße hinausgetreten, als wäre sie noch immer in einer Stadt, wo das schnellste Fahrzeug ein zweirädriger Eselskarren war.
»Ist auch wirklich alles in Ordnung?«
Der Kellner war wieder neben ihr aufgetaucht und sah sie nun eindeutig besorgt an.
»Ja, kein Problem«, antwortete sie hastig. »Ich war nur … ein bisschen abgelenkt, das ist alles.«
»Sie sollten aufpassen«, sagte er ernst. »Ihr Freund möchte Sie bestimmt lieber in seinem Bett haben, und nicht in dem neben seinem.«
Pia lächelte flüchtig, aber er blieb ernst und deutete nach rechts. »Zweihundert Meter entfernt ist eine Ampel. Gehen Sie lieber da lang. Der Verkehr ist heute
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