Elfenzorn
Abteilung verraten, nicht die Zimmernummer.
»Ich suche meinen Freund«, sagte sie. »Er ist heute Nacht eingeliefert worden. Mit einer … Stichwunde.«
»Mit einer …« Die Schwester brach mitten im Satz ab und sah eine halbe Sekunde lang seltsamerweise fast schuldbewusst aus. Dann nickte sie. »O ja, jetzt erinnere ich mich. Die Messerstecherei. Es hat ihn ziemlich schlimm erwischt. Sind sie eine Verwandte von ihm?«
»Nein, nur eine Freundin.«
»Ich verstehe.« Die Krankenschwester wich ihrem Blick aus. »Eigentlich haben auf der Intensivstation nur Verwandte Zutritt, und die offizielle Besuchszeit ist auch schon vorbei. Aber …« Sie rang einen Moment lang mit sich und seufzte dann leise. »Also gut, warum eigentlich nicht? Aber Sie müssen leise sein. Und mehr als fünf Minuten kann ich Ihnen nicht gestatten. Einverstanden?«
Pia nickte, und die Schwester drehte sich mit einer knappen Geste herum und ging voraus. Erst hinter der nächsten Abzweigung sah sie das erste Mal etwas, das tatsächlich an ein Krankenhaus erinnerte: eine deckenhohe Milchglastür, auf der in Portugiesisch und Englisch die Worte INTENSIVSTATION, BETRETEN VERBOTEN zu lesen waren. Die Schwester zog eine kleine Chipkarte, mittels derer sie die Tür öffnete, und dahinter erwartete sie eine vollkommen andere Welt, die ihren wahren Charakter weder verbergen konnte noch wollte. Hier roch es nach Krankenhaus, und Pia hörte das emsige Summen elektronischer Geräte. Erneut fragte sie sich, warum Esteban Jesus in eine so teure Klinik hatte bringen lassen. Natürlich war sie ihm dankbar dafür, und Esteban war auch kein armer Mann gewesen … aber das hier musste selbst seine finanziellen Möglichkeitenübersteigen. Und dabei hatte er Jesus nicht einmal besonders gut leiden können.
Vielleicht, dachte sie traurig, hatte er ja gewusst, dass es nur für wenige Tage oder gar Stunden sein würde, und es ihretwegen getan.
»Dort vorne, das letzte Zimmer auf der linken Seite.« Die Schwester war stehen geblieben und deutete mit der linken Hand in die entsprechende Richtung, mit der anderen in die genau entgegengesetzte.
»Ich komme in ein paar Minuten zurück und hole Sie ab. Sie können in Ruhe …« Sie sprach nicht weiter, sondern wiederholte nur ihre auffordernde Geste und sah jetzt eindeutig verlegen aus. Pia wartete darauf, dass sie weitersprach, begriff, dass das nicht geschehen würde, und ging weiter. Allein die Umgebung führte dazu, dass sie sich leiser bewegte, und vor der Tür angekommen, auf die die junge Frau gedeutet hatte, blieb sie noch einmal stehen und sah zu ihr zurück. Sie war nicht weitergegangen, sondern sah sie immer noch auf eine Weise an, die Pia nicht ganz verstand.
Als sie das Zimmer betrat, wurde ihr klar, was dieser Blick bedeutete, und auch, was sie gerade hatte sagen wollen. Es war ein Sterbezimmer, und sie hatte ihr diesen Besuch gestattet, um sie Abschied nehmen zu lassen.
Das Zimmer war groß genug für drei oder vier Betten, enthielt aber nur ein einzelnes, ein verchromtes Monster, in dem selbst Jesus’ hünenhafte Gestalt klein und irgendwie verloren wirkte. Von einem in die Wand eingelassenen Computerpaneel ringelte sich ein dünnes Kabel zu einer Manschette um seinen rechten Oberarm, und ein durchsichtiger Plastikschlauch führte zu einer ebenfalls transparenten Maske, die seinen Mund und seine Nase bedeckte. Irgendetwas piepste, regelmäßig und beunruhigend langsam.
Jesus starb. Sie war nicht zu spät gekommen, dachte sie bitter, sondern gerade rechtzeitig, um ihm dabei zuzusehen.
Aber das würde sie nicht zulassen.
Sorgfältig drückte sie die Tür hinter sich ins Schloss, hielt einen Moment vergebens nach einer Möglichkeit Ausschau, sie zu verriegeln, und trat dann mit klopfendem Herzen näher an das riesige Bett heran. Ein winziger Teil von ihr klammerte sich an die absurde Hoffnung, dass Jesus ihre Schritte hören und die Augen öffnen musste, um ihr zuzulächeln, aber natürlich geschah das nicht. Jesus wachte nicht auf, und er hörte auch ihre Schritte nicht. Er würde nie wieder etwas hören und nie wieder aufwachen.
Pias Augen füllten sich mit Tränen, aber es war wenig mehr als ein Reflex; als wäre ihr Körper der Meinung, dass Tränen in einem Augenblick wie diesem angemessen waren, ohne dass ihre Seele den dazugehörigen Schmerz empfand.
Stattdessen verspürte sie etwas wie eine grimmige Entschlossenheit. Und Trotz. Einen kindischen, aber nichtsdestoweniger gewaltigen Trotz, sich
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