Elfenzorn
allmählich wütend zu machen begann.
»Und, Jungs?«, fragte sie an ihre Stiefel gewandt. »Irgendwelche Vorschläge?«
Sie bekam keine Antwort, aber eine ältere Frau, die gerade vorübergehen wollte, stockte für einen Moment im Schritt und starrte sie mit offenem Mund an, bevor sie kopfschüttelnd weiterging. Pia erteilte sich nicht zum ersten Mal in Gedanken einen Rüffel. Wenn im Moment etwas wichtig war, dann sich möglichst unauffällig zu verhalten. Mitten auf der Straße zu stehen und mit ihren Schuhen zu sprechen, fiel vermutlich nicht unbedingt in diese Kategorie.
Aber warum war sie hier?
Pia glaubte nicht an einen Zufall. Die Stiefel, die sie trug, waren nicht nur wunderbar weich und passten so perfekt wie eine zweite Haut, sondern tatsächlich magisch und fanden immer den richtigen Weg. Sie hatte – natürlich – herzhaft gelacht, als Brack ihr diese Stiefel geschenkt und ihr ihr Geheimnis verraten hatte, aber sie hatten ihr seither mehrmals bewiesen, dass die Worte des Wirtes alles andere als ein Scherz gewesen waren.
Also musste es einen Grund geben, dass sie hier war.
Sie trat einen halben Schritt näher an das Schaufenster heran, um die Auslage genauer in Augenschein zu nehmen. Im ersten Augenblick schien das, was sie sah, nicht den mindesten Sinn zu ergeben, auf den zweiten dafür umso mehr.
Sie stand vor dem Schaufenster eines Sportartikelgeschäftes,in dem – absurd genug bei den hier herrschenden Temperaturen – eine künstliche Winterlandschaft aufgebaut worden war: Schneeverwehungen aus weißen Plastikschnipseln, eine Tanne mit künstlichen Eiszapfen und sorgsam arrangierte Spiegelscherben, die einen zugefrorenen Bach simulieren sollten. Dazwischen waren Skier, Schlitten, Schlittschuhe und Sonnenbrillen arrangiert, und drei Schaufensterpuppen – Mann, Frau und Kind – gaben sich redliche Mühe, die perfekte Bilderbuchfamilie darzustellen, eingepackt in dicke Schneeanzüge, gefütterte Stiefel und schwere Handschuhe. Hier draußen herrschten selbst jetzt, lange nach Sonnenuntergang, noch annähernd dreißig Grad, sodass sie allein der Anblick schon beinahe zum Schwitzen brachte, aber Pia stand trotzdem eine geschlagene Minute lang einfach nur da, starrte die künstliche Winterlandschaft an und fragte sich, wie dämlich man eigentlich sein konnte.
Es gab noch einen anderen Weg in die Welt der Elfen und Orks, und sie war ihn auch schon einmal gegangen. Benutzt das Tor, Erhabene! Wie hatte sie das nur vergessen können?
Sie hatte auch beinahe vergessen, wie kalt es dort gewesen war. Aber daran hatten ihre magischen Schuhe sie ja gerade erinnert.
Sie trat noch einen Schritt näher an das Schaufenster heran, warf einen Blick auf die dezenten Preisschildchen und spürte selbst, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich. Allerdings hätte es ihr auch nichts genutzt, wenn die angebotenen Waren spottbillig gewesen wären. Sie besaß überhaupt kein Geld.
Aber wozu war sie schließlich eine Diebin?
Sie überlegte einen Moment, sich gleich an Ort und Stelle zu bedienen und dem Besitzer des Sportgeschäftes ein Erlebnis zu bescheren, von dem er noch seinen Enkeln erzählen konnte – nämlich dass eine Kundin hereinkam, seine beste Schneeausrüstung anprobierte und sich dann vor seinen Augen in Luft auflöste –, sagte sich aber dann selbst, dass das wohl doch ein bisschen zu auffällig wäre, und entschied sich für eine andere Taktik.
Vorsichtshalber entfernte sie sich zwei komplette Blocks von der Mall, bevor sie ihren Raubzug begann.
Wie sich zeigte, hatte sie nichts verlernt. Sie brauchte eine gute Stunde, um sich mit ausreichend Bargeld zu versorgen, und sie hätte es vermutlich in weniger als der halben Zeit geschafft, wäre sie nicht bei der Auswahl ihrer Opfer noch sehr viel behutsamer zu Werke gegangen, als sie es ohnehin schon immer getan hatte.
Pia hatte niemals wahllos gestohlen, sondern sich immer (wenn auch vermutlich nicht immer mit Erfolg) darum bemüht, nur diejenigen zu bestehlen, die es sich leisten konnten und es überdies verdient hatten: Angeber mit teuren Uhren und Tausend-Dollar-Sonnenbrillen, die aus protzigen Angeberkarren stiegen und einem bettelnden Kind allerhöchstens ein paar Münzen hinwarfen, damit es möglichst schnell verschwand. Eine Zeit lang hatte sie sich sogar selbst recht erfolgreich eingeredet, so etwas wie ein moderner weiblicher Robin Hood zu sein …
Aber der Teil mit dem Verteilen der Beute unter den Armen und Bedürftigen hatte ihr dann
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