Elfenzorn
grauhaarige Mann hinter seiner Theke war noch immer derselbe wie am vergangenen Abend, aber diesmal schenkte er ihr keinen eher gelangweilten Blick, sondern sprang erschrocken hoch und machte Anstalten, hinter seiner Theke hervorzukommen (war das jetzt Dummheit oder Mut?, überlegte sie), erstarrte aber dann mitten in der Bewegung und sah aus, als hätte er erst mit Verspätung überhaupt bemerkt, dass sie nicht allein gekommen war. Während sie zu den Aufzügen eilten, ging Max zu ihm und wechselte ein paar Worte mit ihm, die Pia nicht verstand. Sie hatte auch den Eindruck, dass er ihm etwas gab – kein Geld –, woraufhin sich der alte Mann umdrehte und wieder in seinen Kommandostand zurückschlurfte. Als sie die Aufzüge erreicht hatten und auf die Kabine warteten, begann er zu telefonieren, und Max lehnte sich lässig mit den Unterarmen neben ihm auf die Theke und hörte ganz unverhohlen zu.
Der Lift kam. Die Kabine war beinahe zu klein für vier Personen, zumal es sich bei Peraltas drittem Begleiter um einen wahren Riesenkerl handelte, der gut als Ork durchgegangen wäre, hätte man sein Gesicht grün angemalt und ihm ein paar Hörner und zusätzliche Zähne verpasst. Irgendwie quetschten sie sich hinein, und Toni drückte auf den Knopf für die oberste Etage. Pia schwieg, während sich die Kabine unter dem viel zu großen Gewicht ächzend nach oben quälte. Sie bekam kaum noch Luft, was nicht nur daran lag, dass Toni sich eindeutig fester gegen sie presste, als nötig gewesen wäre. Sie hatte das Gefühl, dass noch etwas hier drinnen war. Etwas, das nicht hierhergehörte.
Sie versuchte, einen unauffälligen Blick in die verspiegelte Rückwand der Liftkabine zu erhaschen, sah aber praktisch nichts. Doch das Gefühl, nicht allein zu sein, wurde nur noch intensiver. Pia war nicht die Einzige, die hörbar erleichtert aufatmete, als der Lift anhielt und die Türen auseinanderglitten.
Anders als bei ihrem ersten Besuch vergangenen Abend war es nahezu dunkel hier oben. Nur hier und da brannte ein schwaches Notlicht, und es war schon fast unheimlich still.
Die Milchglastür vor der Intensivstation war geschlossen, und Toni benutzte seine flache Hand anstelle einer Chipkarte, um sie zu öffnen: Er hämmerte so fest gegen das Milchglas, dass die ganze Tür zu zittern begann. Nur eine Sekunde später glitten die Türhälften auseinander und gaben den Blick auf Professor Gonzales frei. Pia vermochte auf den ersten Blick nicht zu entscheiden, welcher Ausdruck in seinem Gesicht überwog: Müdigkeit oder Zorn.
»Sind Sie verrückt geworden, hier so einen Lärm zu machen?«, fuhr er Toni an. »Das hier ist ein Krankenhaus, und kein …« Er brach ab, blinzelte ein paarmal und schien erst in diesem Moment José Peralta zu entdecken, der schräg hinter Toni stand. Vielleicht irritierte ihn auch Tonis Hand, die noch immer halb erhoben war, als könnte er sich nicht entscheiden, ob er sie noch einmal gegen die Glastür klatschen lassen sollte, oder besser gleich in sein Gesicht.
»Professor Gonzales«, sagte Peralta mit seiner unangenehmen Fistelstimme. »Ich hoffe doch, wir kommen nicht ungelegen. Mein Neffe hat sie doch angerufen, oder?«
»Selbstverständlich, Senhor Peralta«, antwortete Gonzales hastig. »Ich habe nur nicht so schnell mit Ihnen …« Er unterbrach sich abermals, als er Pia gewahrte, und runzelte ärgerlich die Stirn. Vielleicht auch ein bisschen erstaunt, sie nicht mehr in Schwarz, sondern in einer kompletten Polarausrüstung wiederzusehen. »Sie schon wieder?«
»Schon wieder?«, fragte Peralta.
Gonzales’ Blick wurde anklagend. »Sie war gestern Abend schon einmal hier. Ich hatte eigentlich gehofft, sie niemals wiederzusehen.«
»Gestern Abend?«, wiederholte Peralta. Er warf Toni einen eisigen Blick zu, der seinerseits Pia anstarrte und einfach nur verwirrt aussah. Aber wenigstens nahm er endlich die Hand herunter. Es hatte auch ziemlich albern ausgesehen.
»Wie auch immer.« Peralta machte eine wedelnde Handbewegung und schoss zwar noch einen giftigen Blick in Tonis Richtung ab, deutete aber zugleich auch in den Gang hinter dem Arzt. »Ich danke Ihnen jedenfalls, dass Sie sich zu dieser späten Stunde eigens hierheraus bemüht haben. Wenn Sie uns jetzt bitte zu Ihrem Patienten führen würden? Oder möchtest du das tun, mein Kind?«, fügte er lächelnd und zu Pia gewandt hinzu. »Du weißt ja, wo sein Zimmer ist.«
Pia zog es vor, gar nichts dazu zu sagen.
Flankiert von einem immer noch
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