Elfenzorn
fahren mussten. Aber es war verdammt weit.
Jesus hatte schon eine ganze Weile nichts mehr gesagt, sodass sie ihm einen raschen Blick zuwarf – und erschrak. Jesus saß schon fast unnatürlich gerade aufgerichtet auf dem Beifahrersitz und klammerte sich mit der rechten Hand am Armaturenbrett fest. Die andere hatte er gegen die Seite gepresst. Sein Gesicht war kreidebleich, und sie konnte Blut riechen.
»Du musst durchhalten«, sagte sie. »Ich kann dir nicht mehr helfen. Aber es ist nicht mehr weit.«
Zumindest der letzte Satz war kaum mehr als ein frommer Wunsch, und sie war ziemlich sicher, dass Jesus das auch wusste. Trotzdem nickte er. Sie konnte spüren, wie schwer ihm schon diese kleine Bewegung fiel. Pia konzentrierte sich bewusst wieder auf den Verkehr und hoffte, dass ihr Orientierungssinn sie nicht getäuscht hatte. Sie mussten nach Süden, das war soziemlich alles, was sie mit Sicherheit sagen konnte … aber diese verdammten Straßen schienen überallhin zu führen, nur nicht in die Richtung, die als einzige wenigstens den Hauch einer Chance versprach.
Und natürlich schafften sie es nicht.
Sie hatten sogar einen Gutteil der Strecke hinter sich gebracht, die den anständigen Teil der Stadt von den Favelas trennte, und das Schicksal war gehässig genug, genau bis zu dem Sekundenbruchteil zu warten, in dem sie das erste Mal vorsichtig Hoffnung zu schöpfen begann, sie könnten es tatsächlich schaffen.
In der nächsten Sekunde tauchte das blitzende Blau- und Rotlicht eines Polizeiwagens im Rückspiegel auf.
Es war noch ein gutes Stück entfernt; sieben oder acht andere Wagen, trotz des immer spärlicher werdenden Verkehrs, und Pia klammerte sich wider besseres Wissen und gegen jede Logik an die verzweifelte Hoffnung, dass sie hinter einem anderen bösen Buben oder einem armen Schwein her waren, das das Pech gehabt hatte, ausgerechnet unter den Augen der Staatsmacht eine rote Ampel oder ein Stoppschild überfahren zu haben, bog bei der nächsten Gelegenheit und ohne den Blinker zu setzen ab und sah gerade noch im Rückspiegel, wie der Streifenwagen zu einem gewagten Überholmanöver ansetzte. Dann war er verschwunden, tauchte dreißig Sekunden später erneut im Rückspiegel auf und war jetzt nur noch zwei Wagenlängen entfernt. Dann eine und nur ein Lidzucken später gar keine mehr, als sich die Fahrer der beiden Wagen hinter ihr als gesetzestreue Bürger erwiesen und rechts ranfuhren, um den Streifenwagen passieren zu lassen. Pia beobachtete die zuckenden Lichter im Innenspiegel aufmerksam, wartete den richtigen Moment ab und verhielt sich dann als noch gesetzestreuere Bürgerin, indem sie ebenfalls abbremste, und das mit solcher Gewalt, dass der Fahrer des Streifenwagens hinter ihnen nicht einmal mehr den Hauch einer Chance hatte, zu reagieren.
Der Bentley zitterte nur leicht, aber der Streifenwagen kam miteinem gewaltigen Krachen zum Stehen. Glas splitterte, sämtliche Lichter erloschen in derselben Sekunde, und aus der Motorhaube, die plötzlich aussah, als wäre sie einem wütenden Elefantenbullen in den Weg geraten, stieg eine gewaltige weiße Dampfwolke.
Pia gab Gas, ließ den Bentley auf kreischenden Reifen um die nächste Abzweigung schlittern und beschleunigte dann noch mehr.
»Hm?«, machte Jesus. Die letzten fünf oder zehn Minuten war er zwar nicht bewusstlos gewesen, hatte aber in einer Art Dämmerzustand neben ihr auf dem Sitz gehockt und aus glasigen Augen ins Leere gestarrt, und obwohl sie es nicht einmal mehr für möglich gehalten hätte, war er noch blasser geworden. Ein bisschen, dachte sie, sah er jetzt aus wie der Sith.
»Nichts«, sagte sie. Dann seufzte sie tief. »Ich fürchte, ich habe einen Kratzer in den Lack gemacht. Onkel José wird mich umbringen.«
»Bitte fahr nicht so schnell«, nuschelte Jesus. Pia hatte das Gefühl, dass er kaum noch bei Bewusstsein war. »Mir ist gar nicht gut.«
Sie nahm tatsächlich ein wenig Tempo weg – allerdings nur, weil die Straße immer schmaler wurde und sie inzwischen mit mehr als hundert Stundenkilometern dahinrasten.
Ihre Gedanken rasten noch schneller. Wenn ihr Orientierungssinn sie nicht vollkommen im Stich ließ, dann waren sie nur noch ein halbes Dutzend Blocks von dem Teil der Stadt entfernt, in dem sie sich eindeutig besser auskannte als die Polizei (was auch daran lag, dass sich kaum ein Polizist dorthin traute, solange er nicht in einem Panzer oder einem bewaffneten Kampfhubschrauber saß), aber sie ahnte, dass sie es
Weitere Kostenlose Bücher