Elia Contini 03 - Das Verschwinden
Sport eine Aktivität ist, die schweigend betrieben werden kann, war ihr bis dahin gar nicht bewusst gewesen.
Sie ging nicht mehr in den Garten, auch das Wohnzimmer betrat sie nicht mehr. Sie hatte den Fernsehapparat in die Küche gestellt und einen Sessel davor. Dort saß sie in einer Ecke, sah Eurosport und trank gläserweise Milch.
Das Läuten an der Tür schreckte sie auf, als sie Butter auf eine Scheibe Schwarzbrot strich. Im Fernsehen setzte eine kolossale Kugelstoßerin zum Wurf an. Das Messer in der Hand, ging Natalia zur Tür und stand vor einem braunhäutigen Mädchen, das sie anlächelte. Es war Barbara. Vor Jahrtausenden hatten sie miteinander die Ferien verbracht, vor Jahrhunderten hatte Natalia ein paar Tage in Genf bei ihr gewohnt.
»Hallo!« Barbara musterte das Messer. »Alles okay?«
»Brot und Butter«, sagte Natalia. »Magst du auch?«
Sie setzten sich in die Küche. Barbara bewegte sich vorsichtig, als fürchtete sie, etwas umzustoßen oder zu zerbrechen. Natalia machte es nichts aus: Es war nicht die Art von betulichem Zartgefühl, das letztlich das Gegenteil der beabsichtigten Wirkung erzielt, sondern eher die zurückhaltende Wachsamkeit dessen, der unerforschtes Gelände betritt.
»Ich weiß schon, dass du deine Ruhe haben willst«, sagte Barbara. »Aber ich muss morgen nach Genf zurück und wollte vorher … na ja, du gehst ja nicht mehr ans Telefon, und deshalb dachte ich …«
»Tagsüber mache ich es jetzt immer aus.« Natalia machte auch eine Scheibe Brot für Barbara. »Sorry.«
»Das Wichtigste ist, dass es dir gut geht.«
Natalia gab keine Antwort und blickte nicht von ihrer Tätigkeit auf.
»Willst du dein Natel nicht mal anmachen? Bestimmt hast du jede Menge Anrufe …«
»Später.«
»Wo hast du’s denn?«
»In meiner Handtasche.«
Die Athletin machte zwei Schritte, drehte sich anderthalbmal um die eigene Achse und stieß ihre Kugel. Die Mädchen verfolgten gespannt die Flugbahn, bis die Kugel nahe einer Linie im Gras landete. »Gehen wir ein bisschen spazieren?«, fragte Barbara.
Sie fuhren mit dem Bus bis zum Bahnhof von Lugano und gingen die lange Treppe zur Altstadt hinunter. Das Gehen behagte beiden. Es war ein Tag mit Sonne und Wolken, Natalia atmete tief ein und genoss es, im Freien zu sein. Es ging ein leichter Wind, der den See kräuselte und die Sonnenschirme auf der Piazza della Riforma blähte.
»Es ist aber eindeutig besser geworden«, sagte Barbara. »Du sprichst doch eigentlich schon wieder wie früher.«
»Fast.«
Barbara bemühte sich nach Kräften, doch Natalia fand einfach nicht zurück in ihre frühere Welt mit ihren unerschöpflichen Themen Jungen und Filme und Musik. Das normale Leben schien ihr Lichtjahre entfernt.
»Bei wem wirst du denn jetzt leben?«, fragte Barbara.
»Für eine Weile kommen Verwandte zu mir. Dann allein.«
»Warum kommst du nicht zu mir nach Genf, wenigstens in den Ferien?«
»Danke. Sehr gern.«
Sie schlenderten die Seepromenade entlang zum Parco Ciani. Vor dem Fahrradverleih drängten sich Touristengruppen, und weiter hinten, beim Kiosk, lungerten Kinder mit Cola- und Fanta-Dosen herum: Natalia fand das Ambiente immerhin anregender als Eurosport.
»Schön, dass du gekommen bist.«
»Ja, ich dachte, dann sehen wir uns wenigstens, bevor ich wegmuss.«
Sie betraten den Botanischen Garten.
»Ich hab jemanden kennengelernt«, sagte Natalia.
Barbara sah sie interessiert an. »Wie heißt er?«
»Giovanni.«
»Wie ist er, gefällt er dir?«
»Ich weiß nicht. Ich bin gern mit ihm zusammen, aber ich muss auch allein sein.«
Es ließ sich schwer erklären. Und sie wollte es gar nicht erst versuchen. Ihr genügte das Knirschen der Kieselsteine unter den Füßen, das Gekreisch der Kinder auf dem Spielplatz und der Geruch des Sees, der in Schwaden unter den Bäumen herüberwehte.
Aber irgendetwas stimmte nicht.
Natalia deutete auf eine Bank, und die beiden Mädchen setzten sich nebeneinander und blickten auf den See. Nach einer Weile zog Natalia ihr Telefon heraus, und kaum hatte sie es eingeschaltet, piepste es hektisch.
»Nicht angenommene Anrufe«, sagte Natalia.
»Also ich hab’s ziemlich oft probiert.«
»Hast du auf die Mailbox gesprochen?«
»Nein, warum?«
»Jemand hat eine Nachricht hinterlassen …« Natalia runzelte die Stirn, als sie die Nummer las. »Das war Contini.«
»Wer ist das?«, fragte Barbara.
Natalia gab keine Antwort. Sie hörte ihre Mailbox ab.
5
Unterschiedliche Typen
Giovanni
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