Elia Contini 03 - Das Verschwinden
Handvoll Häuser, die sich an den Berghang schmiegen. Schöne behäbige Einfamilienhäuser mit verkehrsarmen Straßen, auf denen die Kinder spielen. In den Weinbergen oberhalb des Ortes reiften die Trauben. Contini fuhr am alten Kloster vorbei und stellte sein Auto in einer Straße ab, die zur Ebene hinunterführte.
Brenno Bonetti wohnte in einem modernen Haus mit Flachdach und hellgelb gestrichenen Betonmauern; in der Fassade prangte ein rundes Fenster wie ein Bullauge.
Contini ging auf die Haustür zu und läutete.
Bonetti fühlte sich wahrhaftig zu alt für Gewaltmärsche dieser Art. Er blieb stehen, nahm die Brille ab, zog sein Taschentuch hervor und wischte sich die Stirn, die Augen, den sonnenheißen Nacken. Hoffentlich gab es in diesem verlassenen Kaff dort oben einen Brunnen. Er hatte sich unten im Dorf nach dem Weg erkundigt, und man hatte ihn auf diese steile Abkürzung geschickt. Dort oben wartete Natalia, allein.
Sein Plan war improvisiert, aus dem Augenblick heraus entstanden, aber er konnte klappen. Bonetti setzte vor allem darauf, dass nichts gegen ihn vorlag. Wenn Natalia etwas zustieß, erschiene seine Anwesenheit lediglich als bizarrer Zufall. Der arme alte Richter Bonetti hat die Angaben falsch verstanden, hat sich verlaufen, ist auf einen Steilweg für Alpinisten geraten, hat, als er mit allerletzter Kraft oben ankam, zu seiner Überraschung Natalia angetroffen und sie – heiliger Himmel! – sterbend gefunden!
War das notwendig?
Es quälte ihn, ob er wollte oder nicht. Er wusste, dass er sich für den Rest seiner Tage mit Schuldgefühlen herumplagen würde. Andererseits – die Zeit heilt alle Wunden, und Buße tun kann man immer. War es richtig, ein ganzes Leben im Sonnenschein wegen eines einzigen elenden Fehlers wegzuwerfen, der ihm in einem Moment der Umnachtung unterlaufen war?
War das notwendig?
Die Frage begleitete ihn auf jedem Schritt, während er sich bemühte, nicht nach oben zu schauen. Vorausgesetzt, er schaffte es überhaupt, hinaufzukommen, rechtzeitig, und ohne dass ihn der Schlag traf auf diesem verfluchten Ziegenpfad. War das notwendig? Ja, es war moralisch richtig, sein Leben und seinen Ruf zu retten. Dass er sich bei Vicky hatte gehen lassen und einfach nicht aufgehört hatte, auch als sie geschrien und ihn angefleht hatte, war ein kolossaler Fehler gewesen. Und war es nicht ein noch größerer Fehler, dass er seinen sexuellen Fantasien nachgegeben, die Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit überschritten hatte?
Nein, falsch im eigentlichen Sinn war es nicht. Versucht nicht jeder auf seine Weise, den Tod zu überlisten? Hat nicht jeder seine uneingestandenen und ungestehbaren seelischen Abgründe? Bonetti hatte einfach Pech gehabt: Es war etwas passiert, ein hässlicher Zwischenfall. Hätte er die Zeit zurückdrehen können, hätte er sich vom Tukan ferngehalten, und nichts wäre geschehen.
Er hatte Vicky nicht umgebracht; aus strafrechtlicher Sicht wäre er halbwegs glimpflich davongekommen. Aber er hätte keinem Menschen mehr in die Augen blicken können, seinen Freunden nicht, seinen Schwestern nicht, niemandem. Und es gab doch so viele, die so große Stücke auf ihn hielten!
Schiefgegangen war es von dem Moment an, als Savi den Doktor Mankell ins Boot geholt hatte. Dann hatte Rocchi Verdacht geschöpft, hatte Beweise gesammelt, war gnädigerweise gestorben, aber seine Frau war in seine Fußstapfen getreten und hatte sich mit ihm und Savi in Verbindung gesetzt. Inzwischen war Bonetti schon zu allem bereit. Nun – zu fast allem: Nie hätte er gedacht, dass er morden müsste. Er war Savi gefolgt, hatte dessen Streit mit Sonia Rocchi beobachtet, und am Ende, als sich die Gelegenheit bot, die Frau ein für alle Mal zum Schweigen zu bringen, hatte er nicht widerstehen können.
Woher hatte er die Kraft, einen Mord zu verüben? Und kaltherzig den eingeschlagenen Weg weiterzugehen, weiterzumorden, Zeiten und Wahrscheinlichkeiten zu kalkulieren … woher hatte er diese Geduld, diese Verbissenheit, an sein Ziel zu gelangen und den Urfehler ungeschehen zu machen?
Bonetti war zu allem bereit, um sein Gesicht zu wahren. Der ganze Kanton hätte über ihn gelacht, als perversen Alten hätte man ihn beschimpft, als sadistischen Frauenmisshandler. Er müsste auswandern, in ein Land fliehen, wo ihn niemand kannte, besser: wo niemand lebte. Nordfinnland. Aber er wollte nichts anderes als ein angesehener pensionierter Richter bleiben, mit seinem weiten Freundes- und
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