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Elia Contini 03 - Das Verschwinden

Elia Contini 03 - Das Verschwinden

Titel: Elia Contini 03 - Das Verschwinden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Fazioli
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Natalia die rote Fahne mit weißem Kreuz ins Fenster. Das war eigentlich ein Ritual, das sie gemeinsam mit ihrem Vater gepflegt hatte, wenn sie in Corvesco Ferien machten, und deshalb fühlte sie sich auch an diesem Morgen verpflichtet, die Tradition zu wahren. Vielleicht ging es ihr da ja auch nicht anders als ihrer Mutter – sie hatten eben beide das Bedürfnis, Papa in ihrem Leben zu halten, sei es mit Gegenständen oder mit Gesten.
    »Kommst du mit, das Feuer anschauen?«
    »Ich erwarte noch Besuch. Hab ich dir doch gesagt …«
    »Sag bloß, du hast tatsächlich diesen Barmenschen angerufen!«
    »Natalia, lass es sein. Geh du schon voraus, ich komme nach.«
    Natalia presste die Lippen zusammen. Sie befanden sich in Papas Arbeitszimmer. Das Mädchen, in Jeans und Bluse, mit schwarzer Umhängetasche, um die Schultern ein Sweatshirt, stand in der Tür, Sonia saß am Schreibtisch, Tee trinkend, vor sich eine aufgeschlagene Mappe mit Notizen.
    »Aber es ist doch schon neun!«
    »Na und?«
    »Wenigstens am Abend könntest du damit aufhören!«
    »Dein Vater hat eine unerledigte Angelegenheit zurückgelassen, und ich will sie zu Ende bringen.«
    »Mama, das ist doch absurd. Was sollen diese Spielchen, du bist doch kein Kind!«
    »Das sind keine Spielchen. Und ich bitte um etwas mehr Respekt, Fräulein.«
    »Na gut, ich bin weg. Tschau!«
    Natalia ging und ließ die Tür extra laut zufallen. Sonia schüttelte den Kopf. Sie nahm einen Schluck Tee. Schwieriges Alter, dachte sie. Natürlich stand Natalia noch unter Schock; sie würde Jahre brauchen, um den Tod ihres Vaters zu verarbeiten. Sonia fragte sich, ob es ein Fehler war, dass sie ihre Tochter in dieser schweren Zeit so oft sich selbst überließ. Zugleich aber hatte sie das unabweisliche Gefühl, dass das, was sie tat, wichtig war.
    Sie hatte Corrado um Rat gefragt, allerdings ohne ihm Namen und nähere Umstände zu nennen, und er hatte abgewiegelt: Enzo hatte wahrscheinlich nur Material im Zusammenhang mit einer Stellungnahme zu den hygienischen Bedingungen in öffentlichen Gebäuden gesammelt. Sonia blieb skeptisch. Sie hatte etliche Anrufe getätigt und vermutlich einige Leute alarmiert. Vorsichtshalber hatte sie nicht von zu Hause aus telefoniert, sondern aus der Praxis, als sie Enzos Sachen abholte. Jetzt hatte sie einige Verabredungen.
    Ob sie tatsächlich übertrieb? Vielleicht war alles Einbildung. Sie hatte überlegt, zur Polizei zu gehen, aber sie fürchtete, sich zu blamieren. Und Savi war ja ganz freundlich gewesen; er sagte, er habe mit Enzo zusammengearbeitet, um die medizinische Versorgung der Mädchen zu gewährleisten, die er als Tänzerinnen einstellte. Er werde ihr alles erklären, hatte er ihr versichert, und ihr sogar angeboten, nach Corvesco zu kommen.
    Vielleicht aber hatte Natalia nicht so Unrecht.
    Vielleicht wollte Sonia ihre Recherche nicht beenden: Das Geheimnis, das Enzo ihr hinterlassen hatte, war ihr irgendwie ans Herz gewachsen. Wenn sie Notizen und Briefe ihres Mannes las, hatte sie oft das Gefühl, er sei im Zimmer nebenan und werde gleich zu ihr herüberkommen.
    Sie verscheuchte den Gedanken und trat ans Fenster.
    Der Mond war hinter einer Wolke verschwunden, doch die Nacht war warm. Sonia atmete tief ein und nahm den feuchten Geruch des Unterholzes wahr. Vom Fenster in Enzos Arbeitszimmer waren es nur wenige Meter bis zum Wald, und die offene Glastür führte direkt auf die Terrasse hinaus.
    Minutenlang stand sie da und starrte in die Dunkelheit. Sie dachte an ihre Tochter. Sie stellte sich vor, wie sie am Dorfrand stand und mit großen Augen wie ein Kind das Nationalfeiertagsfeuer bestaunte.
    Luciano Savi hielt sich für einen anständigen Mann. Nicht in dem Sinn, wie man über einen armen Teufel sagt: Im Grunde ist er ein anständiger Kerl. Savi sah sich wirklich als Mann von Ehre: Wenn er bei jemandem Schulden hatte, zahlte er sie pünktlich bis auf den letzten Rappen zurück. Er glaubte an harte Arbeit und an die Familie. Er und seine Frau hatten zu seinem größten Bedauern keine Kinder bekommen. Zwar hatte er die Hoffnung nie aufgegeben, aber dann war sie krank geworden.
    Es war so ungerecht, dass Rosalba hatte sterben müssen.
    Eine so vitale Frau und ein so entsetzliches Ende.
    Er schaltete den Motor aus und blieb noch ein paar Sekunden im Wagen sitzen. Er durfte jetzt nicht an sie denken. Wenn er an seine Frau dachte, dann brachte er gar nichts mehr auf die Reihe. Was ihn am wütendsten machte, war seine Ohnmacht –

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