Elia Contini 03 - Das Verschwinden
gegen wen sollte er seine Wut denn richten? Am Ende hatte sogar er eingesehen, dass die Ärzte nichts mehr für sie tun konnten. Am Ende hatte er sie sterben sehen.
Er stieg aus und sah sich um. Er hatte absichtlich ein Stück entfernt geparkt. Nach der Wegbeschreibung der Rocchi stand ihr Haus noch ein ganzes Stück höher, hinter ein paar Kurven. Aber Savi wollte lieber keine Aufmerksamkeit auf sich lenken.
Er wusste sehr gut, was es heißt, einen geliebten Menschen zu verlieren.
Aber die Frau dieses Arztes wusste das anscheinend nicht. Statt zu trauern, fand sie die Zeit, um Detektiv zu spielen. Ihr machte es auch noch Spaß, mit tiefernster Stimme anzurufen, als klagte sie ihn wer weiß welcher Verbrechen an. Zum Glück hatte er gelernt, mit Leuten ihres Schlages umzugehen.
In aller Ruhe. Jedenfalls solange sie nicht eine gewisse Grenze überschritten.
Andernfalls hieß es eingreifen. Die Leute nicht übermütig werden lassen.
Sie habe mit niemandem gesprochen, hatte ihm Sonia Rocchi versichert. Umso besser. Wahrscheinlich war sie leichter zu überzeugen als ihr Mann. Savi hatte diesen ständigen Ärger satt. Er tat schließlich niemandem was, er wollte nur seine Ruhe haben und sein Lokal führen.
In kilometerlangen Serpentinen führte die Straße durch den Wald nach Corvesco hinauf. In der Kurve, in der das Haus der Rocchis stand, öffneten sich die Bäume zu einer Lichtung, und ein paar Hundert Meter oberhalb begann das Dorf.
Savi ließ die Straße links liegen und nahm eine Abkürzung über die Wiesen. Er steuerte auf ein freistehendes, hell erleuchtetes Haus zu – das musste es sein, Irrtum ausgeschlossen: Bis auf ein paar Schuppen ein Stück weiter war es das einzige weit und breit. Er bog in den Fußweg ein, der zur Haustür führte. Fuhr sich noch einmal durch die Haare und strich die Krawatte mit dem Logo des Tukan gerade. Dieser Arztgattin würde er schon zeigen, wo der Barthel den Most holt.
8
1. August
In der Mitte der Wiese loderte das Feuer in hohen Flammen. Ringsherum rannten kleine Kinder, und ein Mann in Feuerwehruniform stand dabei und ermahnte sie, schon hörbar ermattet: Sie sollten aufpassen, mit Feuer sei wirklich nicht zu spaßen. Am vorderen Rand der Lichtung waren Holztische aufgestellt, und ganz hinten gab es Funkenfontänen und Feuertöpfe, Laternen mit Schweizer Kreuz und das Nationalfeiertagsabzeichen zu kaufen.
Natalia hielt sich abseits. Die Gemeinde Corvesco hatte in Zusammenarbeit mit dem Grotto Pepito ein großes Makkaroniessen für das ganze Dorf spendiert; hier und dort wurde noch gegessen. Es roch nach Holzrauch und zerkochten Nudeln.
Natalia begrüßte Giocondo, den Besitzer des Pepito. Er strich ihr über den Oberarm und sagte: »Tut mir sehr leid.«
Natalia nickte stumm. Neben ihr stritten ein paar Kinder um eine Schachtel mit Spezialstreichhölzern Typ »Bengalo«, bis der Größte schließlich die Schachtel an sich riss und ein Streichholz anzündete: Die Flamme war rot, und als das Kind mit dem Arm wedelte, zeichnete sie Leuchtspuren in die Luft.
»Oh, Natalia, wie schön, dass du gekommen bist!« Signora Gervasio war eine Sommerfrischlerin aus Lugano. »Auf der Beerdigung konnte ich ja fast gar nicht mit dir reden.«
»Fast nicht« war immer noch zu viel. Natalia machte sich auf einen zweiten Angriff gefasst.
»Ist die Mama nicht da? Und wie geht’s euch, braucht ihr irgendwas, kann man euch helfen? Was einkaufen? Du weißt, ich kann jederzeit vorbeikommen, wenn irgendwas ist. Man muss sich doch gegenseitig unterstützen, wenn’s hart auf hart …«
In Natalias Kopf gerieten ihre Worte durcheinander und verschwammen zu einem unverständlichen Brei. Nach einer Weile stockte der Redefluss für einen Moment, und Natalia ergriff sofort die Gelegenheit: »Danke, Signora Gervasio. Jetzt muss ich mir aber das Feuer aus der Nähe anschauen.«
Auf der anderen Seite des brennenden Holzkegels bereiteten ein paar Männer das Feuerwerk vor: In wenigen Minuten sollte das Spektakel beginnen. Eine Batterie leerer Flaschen, in deren Hälsen die Raketen steckten, war schon aufgereiht; die Kinder wurden aus der Gefahrenzone verbannt, und die Männer arbeiteten mit so ernsten Gesichtern, als bestückten sie Schiffskanonen vor der Schlacht.
Natalia verdrückte sich in den Schatten, hinter die Kinder.
Sie genoss es, einfach zuschauen zu können, ohne von jemandem angesprochen zu werden. Farbige Kometen sausten über den Himmel, und es erblühten Päonien aus
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