Elia Contini 03 - Das Verschwinden
sie gegen den Schreibtisch schlägt, hört draußen in der Nacht die Raketen explodieren, sieht das Blut unter dem Kopf ihrer Mutter. Natalia kann sie nicht im Stich lassen, sie kann nicht …
Plötzlich blickt der Mann auf, als habe er ein Geräusch gehört oder als sei ihm ein Gedanke gekommen. Natalia hält die Luft an. Der Mann steht auf und geht von ihr fort, zur Tür. Er hat sie nicht gesehen. Er wirft einen Blick in den Flur. Natalia sieht, dass er nervös ist. Vielleicht sucht er sie. Als der Mann das Zimmer verlässt, tritt Natalia auf ihre Mutter zu.
Sie liegt reglos.
Natalia beugt sich zu ihr. Ihre Mutter atmet nicht mehr. Sie ist tot. Natalia greift nach ihrem Handgelenk, lässt es wieder fallen. Sie ist tot, die Mutter ist tot. Stumm kauert Natalia vor ihr. Sie weiß nicht, was sie tun soll.
Sie hört Schritte. Hinter ihr im Flur.
Der Mann kommt zurück. Er darf sie hier nicht finden – niemals kann sie sich gegen ihn wehren. Sie muss fort! Aber als sie aufblickt und ihn vor sich sieht, ist sie wie gelähmt. Auch der Mann rührt sich nicht. Natalia will etwas sagen, und es geht nicht. Der Mann kommt näher.
»He!«, sagt er. »He! Halt!«
Natalia hat jetzt die Mappe mit den Unterlagen in der Hand. Und in der anderen den Aschenbecher. Sie erhebt ihn gegen den Mann. Sie will ihn anschreien, dass er sie ja nicht anrühren soll. Dass er verschwinden soll. Aber sie bringt keinen Ton heraus.
»Komm, gib das her«, sagt der Mann. »Was willst du denn damit?«
Natalia springt auf und flieht, über die Terrasse, die Stufen hinunter, sie rennt, ohne sich umzudrehen, stürzt sich wieder ins Gebüsch, zerkratzt sich an Zweigen und Dornen, rennt weiter, immer weiter, in den Wald hinein, rennt um ihr Leben.
Der Mann hinter ihr her.
Sie hört seine Schritte auf dem Waldboden.
Sie weiß nicht mehr, wohin sie läuft, weiß nicht, wo sie ist. Sie denkt nur eines: Flucht. Der Mann hinter ihr atmet schwer. Ein wenig Licht fällt zwischen den Baumkronen hindurch. Hoch über dem Wald steht der Mond am Himmel. Natalia stolpert und fällt. Sie rappelt sich wieder auf. Sie läuft so schnell, wie es in dem dunklen Wald geht. Sie hört Zweige knacken und explodierende Knallkörper und hinter sich die Schritte des Mörders.
ZWEITER TEIL
Flucht
1
Das Mädchen im Wald
Natalia rannte. Sie dachte nicht an die Straße. Sie wich Bäumen aus und mied freie Flächen, hielt sich, wann immer es ging, in der Nähe von Büschen. Das Gelände stieg bald an, bald fiel es ab, insgesamt aber ging es aufwärts. Irgendwann stolperte sie eine Böschung hinab. Einmal hielt sie inne, hielt sich an einem Ast fest und horchte.
Ein Knacken von Zweigen, dumpfe Schritte auf dem Waldboden.
Der Mann verfolgte sie noch immer. Natalia hetzte weiter. Am unteren Ende der Böschung stieß sie auf ein Bachbett. Sie bemühte sich, von einem Stein zum nächsten zu balancieren, doch natürlich rutschte sie aus und landete mit dem Fuß im Wasser. Sie achtete nicht darauf. Am anderen Ufer lagen mehrere Felsbrocken. Natalia wollte sich mit einer Hand an einem Felsen abstützen, um zu verschnaufen, und erst jetzt wurde ihr bewusst, dass ihre Hände nicht leer waren. Was war das für eine Mappe? Und diese Papiere, die halb heraushingen? Und was wollte sie mit dem Aschenbecher? Warum hielt sie das alles derart krampfhaft fest, dass sie Mühe hatte, die Finger zu öffnen?
Natalia wusste es nicht.
An einem Felsblock entlang sank sie zu Boden, und der harte Stein schrammte ihr über den Rücken. Ihre Finger ertasteten eine Felsspalte, fast eine kleine Höhle, halb von Moos überwuchert. Natalia stopfte die Mappe mit den Papieren in den Hohlraum und schob den Aschenbecher hinterher, um den Zugang zu verschließen. Zur Tarnung schichtete sie Moos und Steine davor.
Es war wichtig, dass die Sachen hierblieben, gut geschützt und versteckt. Es war wichtig, weil sie alles waren, was Natalia besaß, und sie musste es schützen und sicher verwahren.
Aber wie das Versteck wiederfinden? Natalia war ratlos, bis sie merkte, dass sie noch immer das Sweatshirt um die Schultern trug, und ihre Umhängetasche war auch noch da. Sie kramte darin, fand einen Schminkstift und machte damit ein Zeichen an der Flanke des Felsbrockens, ein kleines schwarzes Kreuz. Dann hob sie jäh den Kopf. Der Verfolger hatte nicht aufgegeben. Über das Murmeln und Rauschen des Bachs hinweg meinte sie knackende Zweige und schweres Atmen zu hören.
Er suchte sie noch immer. Er war ganz in der
Weitere Kostenlose Bücher