Elia Contini 03 - Das Verschwinden
Vorstandsmitglieder erschienene Präsidentin, eine Dame von robuster Statur, deren Haupt eine blondhaarige Aura umwölkte.
»Wie ist das zu verstehen, ein Wohnen, das den Sternen Rechnung trägt? Einklang mit dem Horoskop und so?«, fragte einer der Gäste.
»Natürlich ist hier nicht die Rede von den banalen Zeitschriftenhoroskopen«, antwortete die Präsidentin, »sondern von etwas viel Tiefergehendem. Ich beschäftige mich seit Jahren mit dem Thema und kann sagen, dass man nie auslernt, man muss nur immer mit offenem Geist durch die Welt gehen.«
Contini war es gewohnt, über solche Begegnungen, Konferenzen, öffentlichen Veranstaltungen zu berichten: alles, was die Leute aus dem Haus lockte, damit sie nicht mehr nur vor dem Fernseher saßen. Er notierte zwei Sätze auf seinem Block und ließ unterdessen seinen Geist schweifen.
Seit Mankells Ermordung hatte die Polizei kein Verständnis mehr für Continis Anteilnahme – sie nannten es Einmischung. Vor allem Kommissär De Marchi hatte ihn ins Gebet genommen. Wer hätte es ihm verübelt? Contini hatte Natalia gefunden, er ging ihnen ständig im Weg herum, und zuletzt hatte er auch noch die Leiche entdeckt.
»Ein Ort ist nicht nur ein Ort, sondern eine Form des Erlebens und Erfahrens. Wenn Sie an einen Ort zurückkehren, an dem Sie schon einmal gewesen sind, nehmen Sie die positiven und negativen Energieeinflüsse unvergleichlich stärker wahr.«
Contini versuchte noch immer, der unauffindbaren Kate habhaft zu werden, zuletzt über Vermittlung eines Bekannten im Migrationsamt, doch sie schien sich, nachdem sie ihren Brief an Natalia abgeschickt hatte, in Luft aufgelöst zu haben. Er hatte sich noch einmal mit Natalia in Verbindung gesetzt, die aber war wortkarger denn je: Nach Corvesco wolle sie nicht mehr, erklärte sie kategorisch, und was Giovanni betraf, war sie ausweichend; ihre Treffen waren offenbar selten geworden. Contini kam es vor, als strebte sie fort von allem, als wollte sie die Vergangenheit hinter sich lassen.
»Viele fordern uns auf, einen Energieplan herauszugeben, aber ich sage: Ohne dass wir Ihre persönliche Situation analysieren, ist das unmöglich, wir sind keine Scharlatane. Jeder muss seine ureigenen Energieorte aufsuchen, muss aus seinen individuellen Urquellen schöpfen.«
Bei Anlässen wie diesem pflegte Contini mitzuschreiben, ohne groß darauf zu achten, was er schrieb. Diesmal aber erregte plötzlich etwas seine Aufmerksamkeit, ein unvermuteter Zusammenklang zwischen seinen Gedanken und dem Wortschwall der Präsidentin.
»Wir veranstalten Kurse, die jedem Teilnehmer helfen, sein inneres Ich an den Tag zu bringen, denn das ist die Voraussetzung für ein Leben in Frieden und Eintracht mit uns und unserer Umgebung. Stellt sich dabei heraus, dass irgendwo eine Schwachstelle besteht, eine Krise sich abzeichnet, so zeigen wir Wege der Umkehr auf: Möglichkeiten, die negativen Einflüsse aufzugreifen und den einen Punkt zu finden, sozusagen das metaphysische Chakra, das …«
Umkehr. Das war das Schlüsselwort. Natalia fand allmählich ihre Sprache wieder, aber ihre Erinnerungen waren nach wie vor blockiert. Vielleicht bestand die Lösung in der Umkehr: Vielleicht musste man sie überreden, nach Corvesco zurückzukehren.
»Aus Anlass des ersten Jahrestages unseres Bestehens verlosen wir Eintrittskarten für die Energiemesse in Molino Nuovo …«
Die Polizei ermittelte derzeit gegen Savis Nachtclub, aber Contini war überzeugt, dass die Wahrheit anderswo lag, in Natalias Seele – man musste nur den Schlüssel finden. Dieses Mädchen hatte etwas zutiefst Erschütterndes erlebt, und das betraf nicht allein den Tod der Mutter. Da war ein Schattenbereich in ihr, etwas Dunkles, von dem noch nichts an die Oberfläche gelangt war.
»Haben Sie noch Fragen?«
Die Präsidentin blickte hoffnungsvoll auf ihr Publikum. Aber es kam nichts, die geladenen Journalisten hatten es eilig, in ihre Redaktion zurückzukehren, um rasch ihre Artikel abzuliefern.
»Gut, wenn keine weiteren Fragen mehr sind …«
Die Pressekonferenz bog heiter in die Zielgerade ein.
3
Natalia schreibt weiter
Massagno, 20. August
Ich muss dauernd weinen. Alle sagen, dass es besser wird. Es stimmt, dass ich immer besser schreibe und rede: wenn ich einen Fehler mache, merke ich es gleich. Der Psychiater sagt, die Ursache der Afa Sprachstörung ist keine Hirnverletzung, sondern die Folge von prosttau posttraumatischem Stress. Aber ich weine viel. Nicht nur weil meine
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