Elia Contini 03 - Das Verschwinden
perplex.«
»Perplex? Warum?«, fragte Contini harmlos.
»Wenn ich Ihrer Erinnerung auf die Sprünge helfen darf: Sie haben das Mädchen Natalia Rocchi im Wald gefunden, Sie haben sich Zutritt zu vertraulichen Unterredungen verschafft, Sie haben Mankells Leiche entdeckt, und jetzt stehen Sie hier vor mir und sehen aus wie einer, der sich geprügelt hat.«
Gianrico Roberti war ein großer, dicker Mann mit dunklen Tränensäcken unter den Augen und nach oben sich verjüngendem Schädel. In der Branche galt er als herausragender Journalist mit miesem Charakter.
»Ich hatte einen kleinen Unfall«, sagte Contini, »und es war reiner Zufall, dass ich in diesen Fall hineingeraten …«
»Hineingeraten!«, fiel ihm Roberti ins Wort. »Zufall! Machen Sie Witze? Sie haben diese Natalia aktiv im Wald gesucht, Sie haben sich an dieses Mädchen angeklebt wie eine Klette … Aber ich mache Ihnen ja gar keinen Vorwurf, wohlgemerkt, ich kritisiere Sie ja gar nicht!«
»Nein?« Contini war leicht verwirrt.
»Im Gegenteil, ich hätte Ihnen zu Ihrem guten Riecher und Ihrer Zähigkeit gratulieren können. Ich hätte Sie zum Reporter befördern können – wenn Sie auch nur die geringsten Anstalten gemacht hätten, mich über Ihr Vorgehen zu informieren!«
»Aber das waren doch vertrauliche Angelegenheiten, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt …«
»Nicht für die Öffentlichkeit bestimmt! Sie arbeiten für eine Zeitung, wir leben für die Öffentlichkeit! Ich muss mich von meinen werten Kollegen verarschen lassen, weil die Konkurrenz uns Informationen wegschnappt, die Sie, Contini, aus allererster Hand haben!«
»Na ja, aus allererster Hand ist vielleicht ein bisschen übertrie…«
»Wieso haben Sie mich nicht sofort angerufen, als Sie Mankells Leiche entdeckt haben?? Wieso musste ich das aus dem Radio erfahren??!«
Contini seufzte nur, allerdings vorsichtig, um seine Lungenflügel zu schonen.
»Ich sag’s Ihnen noch mal, so geht das nicht . Ich schalte das Radio ein und muss hören, dass ein gewisser Elia Contini am Tatort anwesend ist, der für unsere Zeitung arbeitet, und wir sind die Allerletzten, die irgendwas davon erfahren? Ist Ihnen die Tragweite Ihres Verhaltens bewusst?«
»Ja«, sagte Contini.
»Das hoffe ich!« Der Herausgeber bog wütend eine Büroklammer auseinander. »Das bedeutet, dass Sie sich, nachdem Sie es abgelehnt haben, uns zu informieren, aus dem Fall Rocchi in Zukunft striktestens heraushalten. Ich will weder Ihren Namen im Radio oder im Fernsehen hören, noch will ich ihn in einer anderen Zeitung lesen. Wenn Sie sich noch ein einziges Mal was zuschulden kommen lassen, sind Sie gefeuert. Fristlos. Haben wir uns verstanden?«
Contini lag die Antwort auf der Zunge, dass ein Mann frei herumlief, der vor Mord nicht zurückschreckte. Und der wusste, dass sein Schicksal an einem seidenen Faden hing, sprich: von Natalias Erinnerung abhing. Aber er besann sich. Wozu viele Worte machen? »Ja«, sagte er wieder.
»Sie halten sich also aus dem Fall Rocchi heraus. Sie werden sich nicht mehr mit diesem Mädchen treffen, Sie schnüffeln nicht mehr in Nachtlokalen herum.«
»Es sei denn …«
»Es gibt kein ›es sei denn‹.«
»Und wenn ich Ihnen einen Scoop bringe?«
Roberti war ein alter Hase. Er legte die verbogene Büroklammer vor sich auf den Schreibtisch, blickte Contini in die Augen und sagte: »Das tun Sie nie, und das wissen wir beide.«
Contini sagte nichts.
»Also halten Sie sich an meinen Rat, wenn Ihnen Ihr Job lieb ist«, schloss der Herausgeber, »und vergessen Sie Natalia Rocchi.«
Agostino Zacchi wunderte sich über gar nichts. Das war sein Lebensmotto, seine Methode, um mit den Zumutungen des Schicksals fertigzuwerden. Er war Psychiater und hatte gelernt, dass es vor allem darauf ankommt, gelassen zu bleiben. Schon eine geringfügige Zwangsstörung, eine fehlgegangene Emotion kann eine ganze Existenz zum Einsturz bringen. Er sah Natalia Rocchi an und sagte: »Der so genannte unausweichliche Schock wurde in zahlreichen Studien untersucht. Das Erleben dieses Traumas führt zu äußerst heterogenen Wirkungen seelischer wie körperlicher Natur.«
Natalia erwiderte seinen Blick leicht ratlos.
»Insbesondere«, fuhr Zacchi fort, »treten nach einem traumatischen Ereignis häufig ein anhaltendes subjektives Unbehagen sowie eine Störung der natürlichen Fluchtreaktion in neuerlichen bedrohlichen Situationen auf. Mit anderen Worten: Sollten Sie erneut einen unausweichlichen
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