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Elia Contini 03 - Das Verschwinden

Elia Contini 03 - Das Verschwinden

Titel: Elia Contini 03 - Das Verschwinden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Fazioli
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Schock erleben, besteht das Risiko, dass Sie der Gefahr wehrlos ausgesetzt sind.«
    »Aha«, sagte Natalia.
    »Aber Ihr Fall scheint ein minderschwerer zu sein. In dramatischeren Fällen ist häufig eine erheblich reduzierte Lernbereitschaft anzutreffen, in deren Folge …«
    »Entschuldigung«, unterbrach ihn Natalia.
    »Bitte.«
    »Ich verstehe nichts.«
    Dr. Zacchi gestattete sich ein halbes Lächeln. Die Patientin hatte zu reagieren begonnen. Der Fall war interessant: Die partielle Aphasie und die traumatisch bedingte Gedächtnisstörung waren in der hier vorliegenden Ausprägung ungewöhnlich. Deshalb, und nicht nur wegen der Empfehlung von Rechtsanwalt Bossi, hatte er Natalia kurzfristig als Patientin aufgenommen.
    »Sehen Sie, Signorina Rocchi, das Problem kann ein rein physisches sein: Über die Verbindung zwischen Locus caeruleus und Amygdala erzeugt ein Mangel an Dopamin und Noradrenalin eine zeitweilige Modulation des Gedächtnisses …«
    »Entschuldigung, aber ich glaube, ich werde es sowieso nicht verstehen. Finde ich mein Gedächtnis wieder oder nicht?«
    Zacchi hatte absichtlich diese obskure Sprache verwendet, um zu testen, wie ausgeprägt der Anreiz zu lernen bei seiner neuen Patientin war. Er war ein kleiner, zappeliger Mann, aber wenn er wollte, konnte er seinem Gegenüber durchaus eine gewisse Scheu einflößen. Er machte sich eine Notiz in das Heft, das er aufgeschlagen vor sich liegen hatte, und sagte: »Im Klartext: Der Schock hat bei Ihnen eine Art Dissoziation ausgelöst, die im Grunde ein Schutzmechanismus ist. Ihr Unterbewusstsein verweigert die Erinnerung, um Ihnen den Schmerz des Erinnerten zu ersparen. Sie haben insbesondere einige Bereiche des episodischen Gedächtnisses eingebüßt, während das prozedurale Gedächtnis nach wie vor intakt ist.«
    »Ich verstehe noch immer nichts.«
    »Verbalisierbare Erinnerungen – das heißt die Ihnen widerfahrenen Umstände, die Sie mit Worten ausdrücken können, wenn Sie können – haben Sie vergessen. Aber Sie erinnern sich ohne weiteres an alles, das sich eher vorführen als verbalisieren lässt, zum Beispiel Verhaltensweisen, unwillkürliche Reaktionen, gewohnte Gesten.«
    »Ich könnte mich also erinnern, wo ich diese Papiere versteckt habe, wenn ich mich der Situation noch einmal aussetzen würde – auf der Flucht, im Wald von Corvesco?«
    Zacchi nickte. Natalia entspannte sich zusehends, sie konnte inzwischen komplexe syntaktische Strukturen mit konjunktivischen Nebensätzen bilden, ohne darüber nachdenken zu müssen. Ihn interessierte nicht der kriminalistische Aspekt, ihm war daran gelegen, den Standpunkt der Patientin zu unterstützen.
    »Ja, wenn Sie an Ort und Stelle wären, könnten Sie sich vielleicht tatsächlich erinnern, was Sie damals getan haben.«
    »Aber in Worte fassen könnte ich es nicht?«
    »Ärgern Sie sich nicht, wenn Ihnen nicht gleich das richtige Wort einfällt«, sagte Zacchi beschwichtigend. »Wenn Sie flüssig schreiben, wenn Sie sprechen, ohne nachzudenken, dann kommen die Wörter leichter, oder?«
    »Ja, das stimmt«, sagte Natalia nachdenklich. »Aber wenn ich dieses Experiment mache und wirklich nach Corvesco gehe, besteht dann nicht die Gefahr, dass es wieder so wird, wie es war, und ich überhaupt nicht mehr sprechen kann?«
    »Das glaube ich nicht. Die Gefahr ist eher, dass Ihre emotionalen und episodischen Erinnerungen, selbst wenn es Ihnen gelingt, sie zu formulieren, verzerrt zurückkehren.«
    »Ebenfalls aus Selbstschutz?«
    Zacchi lächelte. »Ich sehe, Sie verstehen mich! Es handelt sich um Bruchstücke ungebetener Erinnerungen, die sich nicht angemessen in einem kohärenten räumlich-zeitlichen Zusammenhang unterbringen lassen. Deshalb gelingt es Ihnen nicht, die Ermordung Ihrer Mutter als isoliertes Ereignis zu erinnern, sondern es kommt Ihnen vor, als habe sie mehrmals stattgefunden …«
    Natalia verfinsterte sich. Sie senkte den Blick und sagte: »Ich versuche nicht mehr daran zu denken.«
    Zacchi machte sich eine Notiz. Es war eine vorhersehbare Reaktion. Anfangs hatte er mit dem Gedanken an eine Hypnotherapie gespielt, erkannte dann aber, dass Natalia nahe daran war, ihre Blockade aufzubrechen. Der Beginn ihrer Psychotherapie mochte der auslösende Faktor dafür gewesen sein. Aber es konnte auch sein, dass, ganz traditionell, die Rückkehr an den Ort des traumatischen Erlebnisses den Prozess des Erinnerns beschleunigte.
    »Glauben Sie mir, Signorina, wenn Sie weiter vor Ihren Erinnerungen

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