Elixir
Luft und grub meine Nägel, so schnell und fest ich konnte, in seine Haut. Mit Befriedigung merkte ich, wie sich in ihrer Spur vier lange Blutstriemen öffneten.
» AU !!«, schrie der Mann.
Ich riss die Augen auf und war schlagartig wieder vollkommen klar. Die Stimme. Das war Sage.
Ich hing über Sages Schulter und er rannte.
Entführte er mich?
Ich wand mich in seinem Arm und schlug wild um mich. » Lass mich runter!«
» Hör auf!«, knurrte Sage und hinter mir flüsterte Bens Stimme: » Clea!«
Ich blickte hoch und sah Ben. Er legte den Finger an die Lippen, dann deutete er hinter sich.
Jetzt verstand ich. Sage hatte uns gerettet, aber wir waren noch nicht aus der Gefahrenzone. Wahrscheinlich war ich nicht besonders lange ohnmächtig gewesen, denn wie es aussah, befanden wir uns noch immer in demselben dschungelartigen Dickicht wie zuvor.
Plötzlich stieg Panik in mir auf.
» Meine Kamera!«, wisperte ich Ben zu. Meine Fototasche war nicht mehr über meiner Schulter. Die Uhr meines Vaters befand sich darin. Ich hatte sie verloren.
Ben hielt die Fototasche hoch. Natürlich hatte er sie nicht zurückgelassen. Dafür hätte ich ihn küssen können.
Wir waren also für den Moment in Sicherheit– zumindest so halbwegs–, aber es gefiel mir dennoch nicht, hilflos über jemandes Schulter zu hängen. Am liebsten hätte ich verlangt, dass Sage mich sofort absetzte, doch angesichts der pochenden Schmerzen in meinem Kopf und meines angeschlagenen Knöchels waren wir wohl schneller, wenn ich blieb, wo ich war.
Mir war immer noch eine wenig schwummrig und irgendetwas nagte an mir. Irgendeine Bemerkung der Angreifer… doch ich bekam es nicht zu fassen. Dass ich mit einer Gehirnerschütterung kopfüber nach unten hing und durchgeschüttelt wurde, machte die Sache nicht gerade besser. Den Kopf zu heben, verursachte mir Übelkeit, also ließ ich ihn wieder nach unten baumeln. Ich dachte an Rayna, die auf Yoga schwor und immer davon schwärmte, wie sie damit » ein Maximum an Entspannung erreichte«. Ich fragte mich, ob sie dazu in der Lage wäre, eine gemütliche Position zu finden, während sie über jemandes Schulter lag. Und ob sie in dieser Stellung mehr oder weniger entspannt wäre, wenn sie wüsste, dass die fragliche Schulter möglichweise zu einem Incubus gehörte, der durch ihre Träume gespukt war.
Ich kicherte.
Es war offensichtlich, dass ich nicht ganz zurechnungsfähig war.
» Hier rein«, hörte ich Sage flüstern und er ließ mich von der Schulter in seine Arme gleiten. Er stand vor einem undurchdringlichen Gestrüpp, doch als er die Blätterwand mit dem Fuß teilte, kam ein kleines Loch zum Vorschein. Ben kroch hinein. Dann sah Sage auf mich herab.
» Schaffst du das?«, fragte er leise.
Auf mein Nicken hin setzte er mich ab. Ich musste mich fast ganz flach hinlegen, um hineinzukommen, und arbeitete mich schier endlos voran. Ich konnte nichts sehen, doch direkt vor mir hörte ich das Schaben von Bens Schuhen. Ich lauschte auf Sage hinter mir, den ich jedoch nicht hörte. War er überhaupt da? Hier drin war nicht einmal genug Platz, um sich umzudrehen.
Mir wurde die Kehle eng und ich konnte nicht schlucken. Was, wenn das eine Falle war? Was, wenn Sage wirklich ein böser Geist und das ein Falle war? Wenn Ben gleich am Ende einer Sackgasse ankam? Wir würden versuchen, rückwärts zu kriechen… nur, um herauszufinden, dass Sage den Eingang verschlossen hatte und uns hier in diesem provisorischen Sarg ersticken ließ.
War er so an die Uhr meines Vaters gekommen? Hatte er Dad auf dem Gewissen?
Ich begann zu hyperventilieren und zwang mich, ganz langsam und tief zu atmen. Ich musste Ruhe bewahren. Jetzt ohnmächtig zu werden, war das Schlimmste, was passieren konnte. Ich steigerte mich wieder in etwas hinein, malte den Teufel an die Wand, statt mitten im Hier und Jetzt zu sein und mich zu konzentrieren. Wie Rayna beim Yoga.
Rayna. Yoga. Konzentrieren.
Wie ein Mantra sagte ich es immer wieder vor mich hin, um ruhig zu bleiben, und nach wenigen Augenblicken öffnete sich der Tunnel zu einer großen Höhle, deren Decke etwa zwei Meter fünfzig hoch war. Von oben fiel ein klein wenig Licht herein, gerade genug, um den Raum und Ben auszumachen. Er eilte herbei und half mir auf die Beine.
» Sag mir bitte, dass ich nicht als Einziger gedacht habe, dass er uns eine Falle stellt«, murmelte er.
» Ich habe mir die ganze Zeit vorgestellt, wie wir in einer Sackgasse enden«, gab ich zu.
Wir lachten
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