Elixir
gebeugt, doch auf seinem Gesicht lag ein Grinsen.
» Du hast das gemerkt?«, fragte ich peinlich berührt.
Sage legte einen Finger auf die Lippen und sah zu Ben hinüber. » Ich wusste es schon zwei Minuten, bevor du aufgewacht bist«, flüsterte er. » Deine Atmung hat sich verändert.« Er beugte sich wieder über seine Zeichnung, dann fragte er: » Schön geträumt?«
Mein Herz setzte aus und ich merkte, wie ich feuerrot anlief, als ich wieder an unser Rendezvous dachte, das auf dem Boden des Ruderbootes geendet hatte. Schnell schickte ich ein Stoßgebet zum Himmel– oder wohin auch immer–, dass man mir im Schlaf nichts davon angemerkt hatte, und sagte dann so lässig wie möglich: » Keine Ahnung, ich kann mich nicht erinnern. Wieso?«
Er tauschte den Stein in seiner Hand gegen einen mit einer spitzeren Ecke und arbeitete einen Moment lang weiter. » Einfach so… mein Name ist gefallen.«
Ich hoffte, dass das fahle Mondlicht meine brennenden Wangen wenigstens ein bisschen blasser erscheinen ließ. » Dein Name«, wiederholte ich. » Das ist… interessant. Man sagt ja, Träume helfen einem, seine Erlebnisse zu verarbeiten.«
» Hmm. Und, hast du was verarbeitet?«, fragte er.
» Wie gesagt, ich kann mich nicht erinnern.«
Ich wusste, dass er mir kein Wort glaubte. Zeit, das Thema zu wechseln. Ich nickte mit dem Kopf zu dem Bild. » Darf ich es mir mal anschauen?«
Er setzte sich auf die Fersen zurück und wies auf sein Kunstwerk. » Klar. Ich bin fertig.«
Ich stand auf und merkte erleichtert, dass mir mein Knöchel nicht mehr wehtat. Vorsichtig ging ich auf Zehenspitzen um das Stück Boden herum, auf dem er seine Zeichnung angefertigt hatte, und ließ mich neben ihm nieder. » Es ist wunderschön«, sagte ich. » Ich bin geschmeichelt. Noch nie hat jemand ein Bild von mir gemalt.«
Sage neigte den Kopf und betrachtete es. » Findest du, dass sie dir ähnlich sieht?«
Wieder raste ein heißes Kribbeln der Verlegenheit meinen Nacken hoch und brachte mein Gesicht zum Glühen. Ich studierte die Zeichnung gründlicher. Es gab eine gewisse Ähnlichkeit, aber nur, wenn man sie sehen wollte. Die Frau darauf hatte die gleichen Haaren und schlief in der gleichen Position wie ich gerade, aber bei genauerer Betrachtung waren ihre Gesichtszüge ganz anders. Ihre Augen standen weiter auseinander, ihre Nase war spitzer, ihre Wangenknochen traten weniger hervor… Unterschiede, die unerheblich schienen, als ich gedacht hatte, dass das auf dem Bild ich war, aber nun, da ich wusste, dass ich es nicht war…
Ich war eine dumme, egozentrische Kuh. Meine Träume von diesem Mann mochten sich echt anfühlen, aber es waren Träume. Sie hatten nichts mit der Realität zu tun– nicht mit meiner und mit seiner erst recht nicht. Ich stammelte herum und suchte nach einer Ausrede. Mir fiel nichts ein.
» Sie sieht dir ein bisschen ähnlich«, gab Sage zu. Seine Augen wanderten über die Konturen des gezeichneten Gesichts. Eigentlich wollte ich dringend das Thema wechseln, doch ich musste die Frage einfach stellen.
» Wer ist sie?«
» Jemand, den ich vor langer Zeit geliebt habe«, murmelte er.
Plötzlich überkam mich ein immenses Verlangen, ihn zu trösten und seinen Schmerz zu lindern, doch ich wusste nicht wie. Dann fiel mir etwas ein.
» Zeig mir deinen Rücken«, sagte ich.
» Meinen Rücken?«
» Deine Striemen. Ich habe dich ganz schön fest gekratzt. Ich will nur sichergehen, dass sich nichts entzündet hat.«
» Nein, nein, hat es nicht.« Er machte eine wegwerfende Handbewegung. » Das ist schon in Ordnung.«
» Komm, lass mich schauen.«
Sage schüttelte den Kopf. » Wir sind in einer Höhle. Hier kannst du es sowieso nicht säubern.«
» Stell dich nicht so an, ich kann einfach beruhigter schlafen, wenn ich weiß, dass sich nichts entzündet hat.«
Sage verdrehte die Augen. » Na gut«, murmelte er, drehte sich um und zog seine Jacke und das Shirt hoch.
Das war merkwürdig.
Die Striemen waren weg.
Komplett verschwunden. Nicht mal eine feine Narbe war geblieben.
Dabei hatte ich meine Fingernägel so tief in sein Fleisch gegraben, dass es geblutet hatte, oder?
Ich schüttelte den Kopf– vermutlich war ich von meinem Sturz noch so benebelt gewesen, dass ich es falsch in Erinnerung hatte. So etwas konnte bei niemandem derart schnell und komplett verheilen.
Ich keuchte auf, als mir jemand einfiel, bei dem es genauso war– Sage selbst. In meinen Träumen. Als ich Anneline war und er sich an den
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