Elke im Seewind
aneinanderstoßenden länglichen Gebäuden eine sogenannte Volière, ein zimmergroßer Flugkäfig, der oben und unten und an drei Seiten feste Wände hat. Vorn besteht die ganze Wand aus einem feinmaschigen Drahtgeflecht. In der hinteren Wand befindet sich eine Tür. Von da her werden die Vögel wohl versorgt. Unzählige Vögel sitzen und fliegen und hüpfen im Käfig herum. Es sind alles gelbe oder braungelbe oder ganz braune Vögelchen: Kanarienvögel. Wer sich daranmachen wollte, sie zu zählen, würde das schnell aufgeben. Es sind zu viele, und die meisten von ihnen sind in ständiger Bewegung. Man würde gar nicht wissen, welche man schon gezählt hat und welche nicht. Ein großer Baum steht in der rechten hinteren Ecke und ein kleinerer in der linken. An den Wänden hängen überall viereckige Nistkästen, und im Sand auf dem Boden stehen Trinkgefäße mit Wasser und Futternäpfe mit Samen. In einer Schale liegt ein großer Kopf Salat, der fleißig beknabbert wird.
Die Mädel können sich gar nicht satt sehen an dem reizenden Durcheinander der allerliebsten Vögel. Sie könnten hier stundenlang stehen und gucken.
Aber daraus wird nichts, denn sie werden jetzt ins Haus gerufen. Frau Franz hat ein Frühstück für sie zubereitet. Warmen Tee und Weißbrot und für jeden — ein Möwenei! Sie haben doch sicher noch niemals Möweneier gegessen.
Frau Brunkhorst läßt die Kinder bei den Leuchtturmwärtersleuten. Sie selber will noch nach Steenodde, um dort Fische zu bestellen. Steenodde ist der kleine Hafen am Wattenmeer, so ziemlich in der Mitte von Amrum. Wenn sie nicht zur rechten Zeit zurück sein kann, sollen die Mädel allein nach Hause gehen. Der Weg, immer an den Inselbahnschienen entlang, ist ja nicht zu verfehlen.
Es gefällt Herrn Franz, daß die Mädel vorhin soviel Freude gehabt haben an seinen Kanarienvögeln. Er setzt sich mit seiner Pfeife zu ihnen in die kleine, gemütliche Stube, in der man kaum die Tapete sieht vor lauter Seebildern, Matrosenandenken aller Art und geschnitzten Schiffen, die zum Teil in Flaschen ihre stolzen Segel schwellen lassen. Die Kinder stellen viele Fragen, und vor allem möchten sie natürlich gern wissen, wie es kommt, daß Herr Franz so viele Kanarienvögel hat. Einen so großen Flugkäfig voll von Vögeln sieht man doch sonst nur im Zoo.
„Ja, die Geschichte laßt euch nur mal erzählen“, sagt Frau Franz lachend und geht hinaus in die Küche, um die Kartoffeln fürs Mittagessen zu schälen.
„Na ja, das war so“, beginnt der gemütliche, grau-bärtige Mann und stopft sich seine Pfeife frisch. „Der Stammvater von der ganzen Gesellschaft war Susi, ein Kanarienweibchen, das meine Schwester sich vor vielen Jahren in Hamburg am alten Steinweg für eine Mark gekauft hat.“
Die Mädel lachen. Der Stammvater war Susi? Das ist wohl nicht gut möglich — Susi kann doch höchstens die Stammutter gewesen sein.
Herr Franz winkt lächelnd ab. „Wartet nur ab“, sagt er und fährt dann fort: „Also — meine Schwester hatte das Kanarienweibchen Susi. Da wurde sie eines Tages plötzlich krank und mußte ins Krankenhaus. Sie wohnte allein in ihrer Wohnung, und da war nun niemand mehr, der Susi versorgen konnte. Ich fuhr hin nach Hamburg und nahm auf der Rückfahrt den Vogel mit. Es war ein nied-liches Tier, ganz goldgelb, zwitscherte auch immer mal ein bißchen, und wir hatten viel Freude an unserer Susi. Als meine Schwester starb, behielten wir sie für ganz. Die Zeit ging hin, und da meinte meine Frau eines Tages, wir sollten doch noch ein Weibchen dazu kaufen, dann war Susi nicht immer so allein. Also schön, das zweite Weibchen nannten wir Mausi.
Susi und Mausi verstanden sich vom ersten Augenblick an großartig. Sie flogen zusammen im Zimmer herum — hier in diesem Zimmer! — und sehr schnell gewöhnten sie es sich an, abends in einem Bauer zu schlafen, mal in dem einen, mal in dem anderen. Wenn meine Frau beim Nähen saß, kamen sie gern und zupften Flocken und Fäden aus ihren Garnknäueln. Diese Flocken packten sie aufs Gardinenbrett, in die geschnitzten hölzernen Schiffe, die hier überall stehen und hängen, oder wo es ihnen gerade paßte. Und eines Tages legte Mausi ein Ei in den Sand ihres Käfigs. Am Tage vorher hatte sie angefangen, in einer Ecke des Käfigs eine Art Nest von Garnfäden zu machen. Na ja, sagte meine Frau, wenn das Ganze auch bloß eine Spielerei von den beiden Weibchen ist, so wollen wir ihnen doch etwas Ordentliches für ihr Nest
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