Elke im Seewind
Uhr.
„Ich habe meine Handtasche vergessen“, sagt sie und fängt vor Aufregung an zu weinen. „Ich muß zurück.“
„Du immer mit deiner blöden Handtasche!“ sagt Elke grob. „Jetzt wo es gerade wieder anfängt, so zu regnen, zurück? Das kommt doch gar nicht in Frage. Außerdem ist es gleich halb eins, wir dürfen nicht zu spät kommen.“
„Ich muß zurück, ich will meine Handtasche wiederhaben!“ Lotti rast davon.
„Es gibt heute gebratene Makrelen, die magst du doch so gerne!“ ruft Ruth ihr nach.
Lotti rennt und rennt. Die drei anderen sehen ihr eine Weile nach und setzen dann ihren Heimweg fort.
„Diese kostbare Handtasche aus echtem Wachstuch!“ spottet Katje. Als wenn es nicht längst früh genug wäre, sie nach dem Mittagessen abzuholen.
Elke knurrt: „Und wir kriegen dann wieder die Ausschelte, weil wir ohne Lotti kommen — das ist ja klar.“
Als Lotti nach einer wilden Rennerei atemlos im Leuchtturmwärterhaus ankommt, findet sie die Tasche nicht mehr auf dem Sofa, wo sie sie vergessen hatte, aber Herr Franz beruhigt sie. Er weiß, daß seine Frau sie sorgfältig eingeschlossen hat in der Kommode. Es war doch eine Geldbörse mit über fünf Mark drin, nicht wahr? Und außerdem eine in weißes Seidenpapier eingewickelte Armbanduhr. Leider weiß Herr Franz nicht, wo seine Frau den Schlüssel zu der Kommode gelassen hat, und seine Frau ist gerade vor fünf Minuten weggegangen. Will das Mädel warten, bis sie zurückkommt?
Lotti sitzt und wartet. Sie wartet eine Viertelstunde, sie wartet eine halbe Stunde. Schließlich, nach mehr als einer vollen Stunde, kehrt Frau Franz zurück. Es tut ihr leid, daß das Mädel solange hat warten müssen, und sie meint beim Abschied freundlich scherzend: „Du bist ja ein ganz feines Fräulein — eine Uhr hast du um den Arm und eine in der Handtasche I’
„Die Uhr in der Handtasche gehört meiner Tante“, lügt Lotti, ohne verlegen zu werden. „Sie hat sie mir mitgegeben, falls in meine mal Sand reinkommt. Wir brauchen ja doch eine Uhr, weil wir immer pünktlich zum Mittagessen da sein müssen.“
O ja, Lotti hat sich alles gut zurechtgelegt, während sie so dasaß und warten mußte.
In Haus Halligblume wird das Mädel sehr ungehalten empfangen. Es ist fast drei Uhr, als sie endlich heimkehrt, und Frau Petermann spart nicht mit ernsten Vorwürfen. Ja, sie stellt sogar die beunruhigende Frage, was es mit der Handtasche denn eigentlich für eine Bewandtnis habe, daß sie die immer mit sich schleppen müsse.
„Die hab’ ich schon von Anfang an immer mitgenommen“, antwortet Lotti.
Schon von Anfang an? Warum sagt das Mädel das? denkt Frau Petermann und nimmt sich vor, Frau Franz bei Gelegenheit zu fragen, ob sie gesehen hat, was in der Handtasche drin war.
Auch Lotti hat ihre geheimen Gedanken. Sie will die Uhr aus der Handtasche herausnehmen und anderswo verstecken. Ruth gegenüber will sie so tun, als wenn es ihre eigene Uhr war, die da in Seidenpapier eingewickelt in ihrer Handtasche gelegen hat. Dann kann Ruth sagen, sie hat es selbst gesehen, daß es ihre Uhr war.
Lotti beschließt, die entwendete Uhr in ihrem und Ruths gemeinsamen Kleiderschrank zu verstecken. Hinten in der Wand ist ein kleiner Nagel, über den sie ihre Baskenmütze gehängt hat. Unter der Baskenmütze sucht ja bestimmt niemand die Uhr.
Was ist nur aus Lotti geworden! Niemals vorher in ihrem Leben hat sie solche durchtriebenen Gedanken gehabt — immer ist sie ein braves, ehrliches Mädchen gewesen — bis zu dem Augenblick, wo sie ihren Neid und ihre Eifersucht auf Elke Gewalt über sich gewinnen ließ.
Unsere Geschichte ist noch nicht zu Ende. Es wird noch viele Unannehmlichkeiten für Lotti geben. Das ihr entgangene Makrelenessen von heute mittag war erst ein kleiner Vorgeschmack!
Siebentes Kapitel
KEINE MÖWENEIER UND DICKE FRIEDENSKÜSSE
Drei volle Tage lang hat es in Strömen geregnet, aber nun ist die Sonne wieder da, und sie lacht, so gleichmütig vom Himmel nieder, als wenn es gar nicht wahr wäre daß sie es ruhig geschehen ließ, daß die Dorfstraßen sich in riesige Schlammpfützen, das schöne, fast trockene Heu auf den Wattwiesen sich in schwärzlichen Brei, die sonst immer so vergnügten Badegäste sich in verdrießliche, nörgelnde Zeitgenossen verwandelten. Die Wettervoraussage hat nun aber wieder gutes Wetter in Aussicht gestellt.
Die Spielschar Robinson, zu der auch Lotti jetzt gehört, ist während der Regentage nicht müßig gewesen.
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