Elke im Seewind
linkes Ohr ist schwarz, und auch noch über das linke Auge weg geht das Schwarze. Sonst sieht er genau so aus wie ein kleiner Eisbär, und auch sein Gang ist gemütlich und tapsig — genau wie bei den jungen Bären, die Fränzi und ich bei Hagenbeck gesehen haben. Taps geht immer ganz allein überall im Dorf rum, und er kommt zu uns hergelaufen, wenn wir ihn rufen. Er war auch schon mal mit in unserer Robinsonburg. Aber da war gerade auch unser Schaf, der Boxer da, und der ging auf ihn zu und wollte ihn stoßen. Du wärst ja bestimmt dagegen angegangen und hättest wenigstens furchtbar gebellt, aber Tapsel ist zu gutmütig dazu. Er ist lieber weggegangen, und Boxer hat ganz dumm hinter ihm hergeguckt. Am liebsten wäre ihm Boxer, glaube ich, nachgelaufen, aber wir hatten ihn gerade an seinem Gehege festgemacht. Der echte Robinson hatte eine Ziege, aber wir haben ein Schaf. Schaf oder Ziege, das ist ja schließlich egal.
Hinterher hat Boxer sich übrigens doch noch losgerissen. Das tut er oft, weil unser Bindfaden zu dünn ist. Aber wir dürfen uns auch keinen dickeren besorgen. Das geht nicht, weil wir spielen, wir sind auf einer einsamen Insel. Da haben wir nur das, was wir uns gerettet haben oder was wild wächst. Leider wachsen hier auch keine Bücher auf den Bäumen, die haben wir nämlich vergessen zu retten und hätten manchmal so große Lust zu lesen, wenn es in der Burg mal zu langweilig ist.
Vorgestern sind Katje und ich beinahe ins Spritzenhaus eingesperrt worden — bestimmt. Beim Baden, weißt Du, paßt immer ein Bademeister auf, und wenn einer zu weit rausschwimmt, dann tutet er. Aber Katje und ich haben gar nicht gedacht, wir sind gemeint, und haben uns überhaupt nicht um das Tuten gekümmert. Da ist er wütend geworden und hat gesagt, er sperrt uns noch im Spritzenhaus ein. Aber gleich danach hat er wieder gelacht und gesagt, es ist alles nicht so schlimm, er muß mit uns nur besonders streng sein, weil wir ohne Eltern hier sind.
Und nun muß ich Dir noch was erzählen, mein Ali, was eigentlich gar niemand wissen darf, ich hab’ nämlich meine Armbanduhr nicht mehr. Mutti findet das bestimmt furchtbar schlimm, und deshalb schreib’ ich es erst mal bloß an Dich und Fränzi. Sie war noch da in der Strandburg, die Uhr, meine ich, und plötzlich war sie weg, und vielleicht hat einer sie gestohlen. Das ist sehr ärgerlich, und Frau Petermann sagt, ich bin selbst schuld, weil ich die Uhr einfach so oben auf unsere Sachen gelegt hab’ —
Elke hält mit dem Schreiben inne und überliest den letzten Absatz. Nein, das mit der Uhr will sie lieber doch noch nicht nach Hause schreiben — Mutti schimpft bloß —
Kurz entschlossen nimmt Elke ihre Nagelschere aus der Nachttischschieblade und schneidet die Schreibblockseite da ab, wo das mit der Armbanduhr anfängt. Es ist gerade unten auf der Seite. Ritsch — da ist das Stück Blatt mit den verräterischen Sätzen auch schon ab. Aber du Schreck! Auf der anderen Seite fehlt nun ein ganzes Stüde mitten heraus aus dem Brief. Seufzend stellt das Mädel fest, daß es den ganzen Brief nun noch einmal schreiben muß. Oder? Schließlich ist es ja bloß ein Hundebrief, und da kommt es nicht so genau darauf an. Nein, das geht auch nicht, fällt ihr ein. In einem Brief kommt es immer genau darauf an, hat Vati mal gesagt, und hat sie ausgescholten, weil sie in einem Brief an Onkel Bernhard mal so geschmiert hatte. Und Vati schilt so selten.
Das Ende vom Lied ist, daß Elke beschließt, den Brief „heute nachmittag“ noch mal zu schreiben. Hoffentlich wird da was draus, denn sehr oft ist aufgeschoben wirklich aufgehoben.
Ein paar Stunden später, am Vormittag, sitzen in Haus Halligblume die erwachsenen Feriengäste gelangweilt herum und blicken hinaus in das trübselige Regenwetter. Aber die neun Kinder der Pension, denen die ganze große Glasveranda zur Verfügung steht, unterhalten sich ausgezeichnet. Sie spielen „Mühle“, „Mensch, ärgere dich nicht“, „Domino“, „Dichterquartett“, „SchwarzerPeter“ — und sogar Lotti macht in allem vergnügt und zufrieden mit. Sie sitzt neben Elke und macht soviel Unfug mit ihr, daß man meinen könnte, es sei eine Sinnesänderung mit ihr vorgegangen und. sie hegte für Elke jetzt die freundschaftlichsten Gefühle. Allerdings, die entwendete Uhr liegt noch immer — fein säuberlich in Seidenpapier eingepackt jetzt — in ihrer roten Handtasche, und Lotti hat sich auch bereits überlegt, ob sie die Uhr
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