Elke im Seewind
geben. Sie suchte eine kleine Pappschachtel her und zupfte Leinwand zu ganz kleinen Fäden. Im Nu war in Susis Bauer ein großartiges Nest fertig, und bald lagen vier Eier drin. Beide Weibchen wechselten sich beim Brüten ab, aber die größere Ausdauer hatte Mausi. Sie schien auch diejenige gewesen zu sein, die die Eier gelegt hatte. Tag für Tag saß Mausi auf den Eiern, und das tat uns richtig leid, denn ohne Vater und nur mit zwei Weibchen konnte es doch keine Jungen geben. Aber anderseits wollten wir ja auch gar keine Kanarienhecke haben. Es war uns ja nie im Traum eingefallen, daß wir Kanarienzüchter werden wollten. Und doch waren wir eines schönen Morgens welche! Im Nest piepste es nämlich. Susi hatte sich als ein Männchen entpuppt. Wir gaben ihm den Namen Adalbert.“
„Leben Adalbert und Mausi noch?“ fragt Elke.
Herr Franz schüttelt den Kopf. „Beide nicht mehr. Mausi zog eine Brut nach der anderen auf. Wenn wir ihr die Eier Wegnahmen, damit sie sich beim Brüten nicht kaputtmachte, legte sie sofort wieder neue. Im zweiten Sommer lag sie eines Morgens mit ausgebreiteten Flügeln tot in ihrem Nest. Zwanzig lebende Junge hatten wir von ihr, und außerdem hatten wir noch einen neuen Vogel dazugekauft, einen echten Harzer Roller, damit die kleinen einen Vorsänger hatten, denn von ihrem Papa Adalbert konnten sie ja nicht viel lernen.“
„Und Sie haben alle Vögel behalten und gar keine verschenkt oder verkauft?“ fragt Kat je.
„Zuerst habe ich welche weggegeben, drei im ganzen, nach Hamburg. Aber ich hab gleich dabei gesagt: Ich paß auf, ob die Vögel es gut haben, sonst hole ich sie wieder. Und dann machte ich auch wirklich mal ‘ne Stichprobe. Da stand der erste in einer überhitzten Küche mutterseelenallein oben auf dem Küchenschrank und hatte um drei Uhr nachmittags noch kein frisches Wasser und Futter gekriegt. Der zweite war ein paar Wochen vorher gestorben. Bei zehn Grad Kälte hatte die Frau ihn beim Lüften des warmen Zimmers auf einem Tisch vorm Fenster stehen lassen — der war natürlich an einer Lungenentzündung eingegangen. Der dritte hatte seinen Platz auf dem Fensterbrett, wo es bekanntlich dauernd zieht, man braucht bloß mal die Hand hinzuhalten. Er hatte schon ganz dicke, rote Füße vor Rheumatismus, der arme Kerl, so gut versorgt er sonst auch war. Ich besorgte mir Transportbauer und nahm meine Vögel kurzerhand wieder mit nach Hause. Als es schließlich gar nicht mehr anders ging, baute ich draußen den großen Flugkäfig. Da kamen die ganzen Familien hinein, Alte und Junge, gelbe und braune — so wie ihr sie vorhin gesehen habt.“
Elke kommt sofort mit einem Einwand. „Ich weiß bloß eines nicht”, sagt sie. „Wo bleiben Sie im Winter mit den Vögeln? Kanarienvögel sind doch Stubenvögel. Die können im Winter doch nicht draußen sein.“
Herr Franz antwortet: „Unsere Winter hier an der See sind meistens ziemlich milde. Außerdem können Kanarienvögel durchaus etwas Kälte vertragen. Was sie nicht vertragen können, das ist der Wechsel vom Warmen ins Kalte und umgekehrt. Ich habe seit vielen Jahren meine Kanarienvögel draußen und kaum erlebt, daß einer die Kälte nicht vertrug. Natürlich sterben immer mal welche, aber das ist bei einer so großen Schar ja weiter nicht verwunderlich.“
Da es draußen inzwischen aufgehört hat zu regnen, gehen die Mädel mit Herrn Franz jetzt hinaus zum Flugkäfig. Sie bekommen nun auch die beiden kleinen Gräber der Stammeltern gezeigt. Auf zierlichen Holzkreuzchen sind fein säuberlich die Namen Adalbert-Susi und Mausi eingeschnitzt.
Aber da wird den Kindern plötzlich klar, daß sie sich schnellstens auf den Heimweg machen müssen, wenn sie rechtzeitig zum Mittagessen wieder zu Hause sein wollen. Sie holen sich rasch ihre Mäntel aus dem Haus, verabschieden sich, werfen noch einen letzten Blick auf das reizende gefiederte Völkchen in seinem Flugkäfig, und dann sind sie auch schon auf und davon.
Die Mädel fanden es herrlich bei dem Leuchtturmwärter und seiner Frau und tauschen im Wandern lebhaft ihre Eindrücke aus. Der Weg, der ihnen hin zum Leuchtturm so weit vorkam, erscheint ihnen jetzt als ein Katzensprung. Da sind sie ja schon wieder bei der kleinen verkrüppelten Fichte! Von hier aus sind es bis zur „Halligblume“ keine zehn Minuten!
Plötzlich bleibt Lotti stehen — starr vor Schreck. Sie hat ihre rote Handtasche beim Leuchtturmwärter auf dem Sofa liegen lassen, und in der Handtasche liegt Elkes
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