Elke im Seewind
daß es im Südwesten, in der Wetterecke, nicht gut aussieht. Die aufziehenden dunklen Wolken verheißen nichts Gescheites.
Die Mädel sind jetzt sehr froh, daß sie sich so warm anziehen mußten. Sie haben längst auch noch ihre Regenmäntel übergezogen. Es ist frisch hier draußen auf dem Wasser.
Hooge kommt immer deutlicher in Sicht, und schließlich kann man die Kirche und die einzelnen Gehöfte, ja sogar die weidenden Kühe schon ganz gut unterscheiden.
„Fein“, sagt Katje zu Lotti. „Es schaukelt ziemlich, aber du bist gar nicht seekrank. Jetzt sind wir ja gleich in Hooge.”
Wenige Minuten später sitzt Lotti trotzdem so kreidebleich und mit so ängstlich geweiteten Augen auf ihrem Sack voll Kartoffeln da, als wenn sie sterbenskrank wäre. Ruth bemerkt es zuerst. „Ist dir wieder schlecht?“ fragt sie erschrocken. Für ein paar Augenblicke antwortet Lotti nicht, dann haucht sie tonlos: „Mir ist furchtbar schlecht.“
Lotti fühlt sich wirklich furchtbar schlecht, ihr ist sterbenselend zumute, aber aus einem ganz anderen Grunde, als die Freundinnen glauben. Sie ist nicht seekrank, sondern ihr ist plötzlich eingefallen, daß Frau Petermann ja gestern abend beim Abendbrot gesagt hat, der Schrank in Ruths und ihrer Stube soll morgen oder übermorgen gegen einen anderen ausgetauscht werden. So fest hat sie sich vorgenommen gehabt, gleich nach dem Abendessen Elkes Uhr vom Haken im Schrank wegzunehmen und anderswo zu verstecken. Aber sie hat es vergessen und ist mit nach Hooge gefahren, und nun hängt die Uhr noch im Schrank, und wenn der Schrank beim Umstellen ausgeräumt wird, dann wird die Uhr bestimmt gefunden. Lotti ist innerlich ganz verzweifelt, sie weiß sich überhaupt nicht zu helfen in ihrer Angst. Nun kommt alles raus, nun steht sie als Diebin und Lügnerin vor allen da — oh, wie entsetzlich ist das!
Die anderen Mädel versuchen, Lotti zu trösten. Keine zehn Minuten, dann haben sie wieder Land unter den Füßen, hat Herr Harmsen eben gesagt.
Aber wie es in diesem Falle nur allzu natürlich ist, bekommt Lotti auch nicht auf den tischebenen, sammetgrünen Wiesenpfaden von Hooge ihr frisches Aussehen wieder. Ihr Blick irrt ruhelos umher, den Mund hält sie in ihrer tiefen Ratlosigkeit geöffnet, ihr Gesicht ist schlaff und ganz verändert.
Herr Harmsen hat mit dem Löschen seines Schiffes zu tun. Eine ganze Schar von Männern und ein Pferdewagen haben schon bei der Landung bereitgestanden, um die mitgeführten Lasten abladen zu helfen und sie ins Innere der Insel zu befördern.
Trine, die hier auf Hooge ihre Großeltern besuchen will, übernimmt die Führung unserer vier. Elke und Katje und Ruth sind begeistert. Sie sind hier auf einer Hallig, auf einer der ganz kleinen, flachen, grünen Inseln mitten im weiten Meer — oh, wie herrlich ist das!
Als Lotti noch immer teilnahmslos bleibt, herrscht Elke sie schließlich an: „Was machst du bloß für ein Gesicht! Jetzt ist das doch vorbei mit der Seekrankheit. Es war doch überhaupt gar nicht schlimm. Du hast dich doch nicht übergeben müssen.’
Die anderen Mädel finden auch, daß Lotti jetzt nur wieder vergnügt sein soll. Mitten auf dem Land ist doch keiner mehr seekrank.
Lotti gibt sich Mühe, den Freundinnen nicht länger aufzufallen, aber es gelingt ihr schlecht. Sie kommt nicht los von ihren Gedanken, von ihrer furchtbaren Angst, und das macht ihr Wesen ganz verändert, sie sieht und hört kaum etwas von dem, was um sie herum vor sich geht.
Arme Lotti! All das Schöne, das die anderen so begeistert und noch begeistern wird — die herrlichen Wiesen allein, überblüht von dem zarten Lilablau der Halligblume, die jubelnden Lerchen, die weidenden Tiere, die segelnden Möwen — auf Lotti machte es keinen Eindruck.
Die Kinder kommen bald an einen Wasserlauf, der wie ein tiefer Graben aussieht. Es ist einer der Priele der Insel. Eine ganz schmale Brücke, die eigentlich nur ein wippendes Brett ist mit einer Holzstange an der einen Seite als Geländer, führt über den rasch fließenden Priel.
Elke sagt freundlich zu Lotti: „Kommst du hier rüber? Sonst halt dich an mir fest. Ich gehe voran und du hinterher. Dann wirst du nicht schwindelig.“
Aber Lotti möchte keine Hilfe. Sie braucht keine. Sie würde jetzt alles tun können, was von ihr verlangt würde — was es auch sein möchte. Denn es bedeutet ja alles nichts gegen die grauenhafte Angst, daß das mit der Uhr jetzt herauskommt. Alles, alles würde sie auf sieb
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