Elke im Seewind
Tische sitzen. Sie liest aus einem großen, schwarzen Gebetbuch vor, und etwa zehn Menschen, Männer, Frauen und Kinder, stehen mit gefalteten Händen um sie herum. Ab und zu geht einer der Männer in die Diele und von da aus ins Freie. Auch Elke geht einmal mit nach draußen. Das schwarze, aufgewühlte Wasser ist schon nahe bei den Häusern. Wenn es nun immer mehr steigt? Ihr wird ängstlich zumute, wenn auch der Mann, der mit ihr hinausgegangen ist, sie daran erinnert, daß die Häuser auf Hooge ja schon ganz alt sind — warum sollte denn gerade in dieser Nacht was passieren! Elke antwortet darauf nicht. Warum beten die Leute denn so, denkt sie.
Zwei Stunden später — der Morgen graut schon — wird in der Küche eine lebhafte Unterhaltung geführt, von der die Kinder aber nichts verstehen, weil friesisch gesprochen wird. Bald danach hören sie aus den Gebeten, die Frau Kröger vorliest, immer wieder das Wort „Dank“ heraus. Wieso das — Dank? Es ist doch noch immer das gleiche, furchtbare Wetter draußen.
Ja, das Wetter tobt in gleicher Weise, und doch ist eine günstige Wendung eingetreten. Der höchste Punkt der Flut ist überschritten, und Ebbe hat eingesetzt. Die Gefahr ist vorüber. Das Wasser wird von jetzt ab durch die Ebbe langsam immer mehr zurückgesogen. Kein ernstlicher Schaden ist auf der Hanswarft entstanden, und wahrscheinlich auch nicht auf den anderen Warften. Das Vieh ist vollzählig beisammen, das Heu gerettet, die Wassergraben, die Fethings, sind unversehrt geblieben.
Kurze Zeit darauf ist es im Haus wieder ganz ruhig. Die Kinder sind zu ihren Strohlagern zurückgekehrt.. Wohl heult der Wind noch um First und Schornstein, und man hört auch noch das Klatschen der Wellen, aber es ist beruhigend zu denken, daß die Gefahr vorüber ist — beruhigend und einschläfernd. Sogar Lotti findet jetzt Schlaf.
Am nächsten Morgen kommt Schiffer Harmsen selbst, um die Kinder abzuholen. Sein Kutter ist trotz des Höllenwetters unversehrt geblieben, und er will nach Amrum zurück. Die See ist noch nicht wieder ganz in Ordnung, wie er sagt, aber sie sind ja doch wohl keine Zimperliesen, und der schwarze Krauskopf, der seekrank geworden ist — damit meint er natürlich Lotti —, kann ja noch hierbleiben und besseres Wetter abwarten. Aber Lotti wehrt geradezu ängstlich ab. Nein, sie will auf keinen Fall Zurückbleiben. Sie wird bestimmt nicht seekrank, und außerdem ist es nach Amrum ja gar nicht weit.
Nun ist Hannsens Kutter wieder draußen auf See. Wie ein Sturmvogel jagt er über die hoch aufspritzenden Wogen hin — wie ein starkes Tier, das lange keine Gelegenheit hatte, seine Kraft zu verausgaben. Den Kindern ist ziemlich in der Mitte des Bootes ein verhältnismäßig ruhiger Platz angewiesen worden, aber die raschen, ruckartigen Stöße, die immer wieder durch das Schiff gehen, sind auch hier spürbar. Lotti sitzt die meiste Zeit mit geschlossenen Augen da, aber seekrank wird sie nicht. Fieberhaft denkt sie immer nur dieses eine: Vielleicht kommen sie doch noch früh genug nach Nebel zurück, und die Schränke sind noch nicht umgestellt!
Aber da kommt auch schon eine neue schwere Prüfung über das arme Mädel. Es wird plötzlich ein stark kratzendes Geräusch hörbar — ein ganz seltsames Geräusch, und das bedeutet, daß der Kutter auf Grund geraten ist. Ja, er sitzt fest, und zwar so gründlich, daß alle Anstrengungen, ihn wieder flott zu kriegen, nichts nützen. Die Segel prasseln und knattern, der angestellte Hilfsmotor schnaubt auf Hochtouren — umsonst! Die aufgewühlte See muß diese Nacht die Fahrrinne etwas verändert haben, anders ist das Mißgeschick des kundigen Schiffers nicht zu erklären.
„Das kostet uns mindestens drei Stunden“, prophezeit Harmsen schließlich voller Wut und flucht grausam. Als Lotti von der zu erwartenden Verspätung hört, heult sie laut los. Wenn sie so spät nach Hause kommen, ist keine Hoffnung mehr, ist ihr Gedanke. Die drei anderen sehen ihrem Weinkrampf ratlos zu.
Tatsächlich ist es schon später Nachmittag, als der Kutter „Bertha“ endlich in seinen Heimathafen Steenodde einläuft. Viele Menschen haben sich eingefunden, um das lange ausgebliebene Schiff zu begrüßen. Auch Fräulein Brunkhorst steht unter den Winkenden, und die Kinder erkennen sie schon von weitem an ihrer schwarz und weiß gestreiften Jacke. Als das Schiff an der Landungsbrücke anlegt, sinkt Lotti vollends der Mut. Wenn Fräulein Brunkhorst nun schon alles
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