Ellernklipp
der Stube mittlerweile reihte sich unablässig Vers an Vers, immer monotoner und immer trauriger, weil sich die Kinder zugeblinkt hatten, es ihm recht traurig zu machen; und als gegen das Ende hin die Stelle kam:
Was zog er ihr vom Finger?
Ein rotes Goldringlein...,
da sahen sie zu nicht geringer Freude, daß des Alten Kopf auf seiner linken Schulter ruhte. Wirklich, er war eingeschlafen, müde von der Fahrt und dem Wein, am müdesten aber von der Einförmigkeit ihres Gesanges; und weil ihnen nichts ferner lag, als ihn wecken zu wollen, so schlichen sie sich fort und drückten so geräuschlos wie möglich die Tür ins Schloß. Auf der Diele draußen aber, um völlig sicherzugehen, taten sie noch ihre Schuhe von sich und tappten sich bis an die Treppe, wo sie, bevor sie hinaufstiegen, einen Augenblick stehenblieben und horchten und kicherten.
Oben aber, gerade der Stelle gegenüber, wo die Treppe mündete, war ein Lattenverschlag, und hier saß Grissel all die Zeit über und nahm aus einer großen Truhe, deren Deckel hoch aufgeklappt war, ihren Sonntagsstaat heraus: Latz und Kopftuch und Rock und Mieder. Und sie schien ganz in ihren Staat vertieft. Als sie jedoch das Kichern unten hörte, blies sie das Licht aus und duckte sich bis an die Erde. Denn es war Mondschein, und der Schatten, der strichweise unter dem Dache hinlief, verdeckte sie nur halb.
Und nun waren Martin und Hilde die Treppe hinauf und standen unter einer Luke, durch die von oben her ein breiter Lichtstreifen einfiel. Und hier war's, wo sie sich trennen und in ihre Giebelkammern nach rechts und links hin abbiegen mußten. Und sie trennten sich auch wirklich. In demselben Augenblick aber, wo Martin an seiner Tür hielt und eben schon die Klinke faßte, wandt er sich und rief mit gedämpfter Stimme zweimal über die Diele hin: »Gute Nacht!« Und auch Hilde hatte sich gewandt, als ob sie's nicht anders erwartet habe, und wie vom selben Geiste getrieben, liefen beide wieder auf die Stelle zu, wo sie vorher gestanden, und umklammerten sich und küßten sich. Eine kurze, selige Minute. Dann aber schreckte sie Geräusch von Flur oder Treppe her auseinander, und nur noch einmal klang es leise: »Gute Nacht!«
Und »Gute Nacht!« klang es ebenso zurück.
Zehntes Kapitel
Sonntag früh
Der Heidereiter war am anderen Morgen zeitig auf. Er liebte sonntags früh eine ruhige Betrachtung und einen inspizierenden Gartenspaziergang, an dem er um so lieber festhielt, als ihm die Woche die Gelegenheit dazu nicht gönnte. Das wußte jeder im Haus, und natürlich auch Hilde, die, so wenig sie sich persönlich aus Gartendienst und Blumen machte, doch immer emsig beflissen war, alles fortzuschaffen, was des gestrengen Spaziergängers gute Laune hätte stören können.
Und so war es auch heut, und der Alte freute sich der überall herrschenden Ordnung. Die Wege waren geharkt, das Unkraut gejätet, und innerhalb der noch grünen Buchsbaumrabatten blühten ihm Astern und andere Herbstblumen entgegen. Auf dem Levkojen-und Resedabeet erkannt er wohl, daß es geplündert worden war, aber er wußte ja, weshalb, und lächelte nur und war der Unordnung eher froh als nicht. Und zuletzt kam er auch an ein kleines Rondel, drin neben den rotstengligen Balsaminen allerhand Rittersporn stand, und er pflückte davon und wollte sich eine der blauen Blüten ins Knopfloch stecken. Aber er besann sich eines anderen wieder und warf sie fort.
Indem war Grissel aus dem Hof in den Garten gekommen und hatte dem Heidereiter kaum erst ihren guten Tag geboten, als dieser auch schon bemerkte, daß das aus dem Garten ins Feld führende Gatter bloß angelehnt und nicht geschlossen war. Das verdroß ihn oder war ihm wenigstens nicht recht, und er warf im Gespräch hin: ein Heidereiter habe viel Feindschaft und dürfe das Gesindel nicht eigens noch einladen, ihm die Blumenbeete zu zertreten oder die Äpfel von den Bäumen zu stehlen. Und so ging es noch eine Weile fort. »Aber das ist der Joost«, schloß er endlich. »Der kann's nicht bequem genug haben und will sich partout die fünfzig Schritte sparen. Er soll's aber nicht. Er soll den großen Weg nehmen oder die Hecke.«
»'s ist nicht der Joost«, sagte Grissel. »Joost ist ein Gewohnheitstier und geht immer die große Straße.«
»Nun?«
»'s ist unsere Hilde; die geht hier, wenn sie nach den Sieben-Morgen will.«
»Und was hat sie da?«
»Nun, da sind ja doch unsere drei Küh oben; und wenn's ihr paßt, da setzt sie die
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