Ellernklipp
von Grissel hingeworfenen Verdachte Nahrung gegeben hätte. Martin und Hilde sprachen unbefangen miteinander, und wenn er sie zufällig im Hof oder Garten traf oder bei Tisch einen eindringenden Blick auf sie richtete, so sah er wohl jenen Anflug von Scheu, den zu sehen er gewohnt war, aber kein Verlegenwerden und kein Erröten. Grissel hatte mal wieder überscharf gesehen und mehr gesagt, als sie verantworten konnte. Das war alles.
So verging die halbe Woche bis Freitag, wo regelmäßig oben auf dem Schloß die Beamten und Verwalter ihren Rapport zu machen hatten. Das war schon zu des Grafen Zeiten so gewesen, und die Gräfin hatte nichts daran geändert. Immer um zehn begann es, und mit dem Glockenschlage zwölf wurde geschlossen. Was bis dahin nicht erledigt war, blieb für das nächste Mal. So war denn jeder im Hause daran gewöhnt, den Heidereiter nicht vor ein Uhr zurückkommen zu sehen, oft aber später, weil unmittelbar nach dem Rapport noch ein Imbiß genommen und ein vertraulicher Diskurs geführt wurde, der oft besser war als Hin- und Herschreiben und Botenläuferei.
Martin und Hilde hatten auch diesmal wieder dem Freitage mit Sehnsucht entgegengesehen, weil er sie, wenigstens solange der Vortrag oben dauerte, vor dem Erscheinen des Vaters sicherstellte. Jeden anderen Tag entbehrten sie dieses Gefühls der Sicherheit vor ihm, mußten es entbehren, denn wenn er auch weit in den Wald hinaus war, er konnte sich anders besonnen haben, war plötzlich wieder da und stand zwischen ihnen, als wär er aus der Erde gewachsen.
An all das war aber heute nicht zu denken, und da Grissel außerdem noch im Küchengarten zu tun hatte, wo sie gemeinschaftlich mit Joost die Saatbohnen abnahm, so saßen die Geschwister auf ihrem Lieblingsplatz in Front des Hauses und blickten auf den Bach, der heute brausender und schäumender als gewöhnlich über die großen Steine hinschoß. Denn die letzten Tage waren Regentage gewesen. Aber seit gestern war alles wieder hell und heiter, und ein paar gelbe Schmetterlinge, die der verspätete Sommertag aus ihrem Schlupfwinkel hervorgelockt hatte, haschten sich in der sonnigen Luft. Und um der Sonne willen standen auch im Hause selbst alle Türen und Fenster offen, und nur in des Heidereiters Stube, die gerade hinter ihnen, aber um ein paar Stufen höher lag, waren die Vorhänge bis auf einen handbreiten Streifen, durch den die Luft zog, heruntergelassen.
Nun schlug es drüben vom Schloß her, und Martin und Hilde zählten die Schläge. »Elf«, sagte Martin. »Eine Stunde noch, und es ist wieder vorbei; dann kann er jeden Augenblick wieder dasein. Und ein Glück noch, daß wir ihn kommen sehen. Er muß über die lichte Stelle weg, dicht neben der Kiesgrube, wo der alte Rennecke seine Geiß eingehürdet hat. Siehst du? Da. Und der blanke Beschlag an seinem Hut ist auch ein Glück und blitzt beinah wie der Wetterhahn oben.«
Und Hilde, die während dieser Worte die Hand an ihre Stirn gelegt hatte, blickte nun auch auf den Punkt hin, auf den Martin immer noch mit dem Finger wies, und beide gewahrten im Hinübersehen in der Tat nichts als den eingehürdeten Grasplatz und die Geiß, die hin und her sprang, und die Lichter und Schatten, die miteinander spielten.
Aber hätten sie fünf Minuten früher ihren Blick ebenso scharf auf die Lichtung drüben gerichtet, so würden sie den blanken Beschlag an ihres Vaters Hut, von dem Martin eben gesprochen, wohl haben blitzen sehen. Denn es war heute kein Vortrag gewesen, da die Gräfin krank war, und gerad als beide die Glockenschläge gezählt, hatte der Heidereiter schon das unten gelegene kleine Haus des Parkhüters passiert und ging im Gespräch mit dem ihm seit lange befreundeten Ilseburger Obersteiger auf die große Straße zu. Hier aber verabschiedeten sie sich, weil sich ihre Wege trennten.
Das Gespräch mit dem alten Freunde, der ihn unter anderem gefragt hatte: warum er so vor der Zeit versauern wolle; er solle sich was Junges ins Haus und in die Ehe nehmen, das mache selber wieder jung, hatte doch eines Eindrucks auf ihn nicht verfehlt, und er dachte noch halb ärgerlich und halb vergnüglich darüber nach, als er keine zehn Schritte vor der Brücke stehenblieb und durch den Werft hin, der hier mannshoch den Weg einfaßte, Martins und Hildens ansichtig wurde. Sie hatte den Kopf müd und glücklich an seine Schulter gelehnt und schien aller Welt vergessen.
Baltzer Bocholt war nicht der Mann des Aufhorchens und Belauschens, aber ebenso
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