Elli gibt den Loeffel ab
resigniert fest.
Wie sie es sich gedacht hatte. Doro hatte sie noch nie belogen und würde es auch nie tun. Elli hatte sowieso schon ein schlechtes Gewissen, einfach so im Zimmer ihrer Schwester nach den Briefen zu suchen. Heinz hatte aber insofern recht, dass sie ihre Schwester gar nicht hätte um Erlaubnis fragen können, weil sie nicht da war. Und auf Doros Rückkehr warten konnte sie nicht. Außerdem hatte Elli einen Anspruch darauf, die Briefe zu lesen.
Nun wusste sie zwar ein bisschen mehr über ihre Mutter und vor allem ihre Sicht auf die vielen gemeinsamen Urlaube, aber es gab nicht den geringsten Hinweis darauf, dass sie ebenfalls Alessandros Tochter sein könnte. Jedes einzelne Wort zu lesen, hätte Stunden gedauert, doch schnell hatten sie herausgefunden, dass ihre Mutter sehr strukturiert schrieb. In den Abschnitten, in denen sie irgendein Thema aufgriff, schweifte sie so gut wie nie ab, was es Elli ermöglichte, manche Passagen nur zu überfliegen.
»Ihr habt euch als Kinder wohl wirklich nicht vertragen«, stellte Heinz bei der Lektüre eines der letzten Briefe aus dem Stapel fest. »Du hast deine Schwester in ihr Zimmer eingesperrt«, sagte er belustigt.
Elli konnte sich ad hoc nicht mehr an die Situation erinnern und nahm ihm den Brief aus der Hand.
Es stimmte. Sie überflog die Zeilen. Doro hatte keine Lust gehabt, sie zum Tanzabend der katholischen Jugend mitzunehmen. Darüber, dass ihre Schwester daraufhin die ganze Nachbarschaft zusammengebrüllt hatte, amüsierte sie sich köstlich.
»Was sind das hier eigentlich für Briefe?« Heinz zog einen separaten Stapel aus einer Ecke der Kiste hervor. Auf den ersten Blick sahen sie nach amtlichen Schreiben aus, zumindest waren beim Durchblättern keine handschriftlichen Briefe dabei.
»Ich glaube, das können wir uns sparen«, meinte Elli.
Heinz blätterte sie trotzdem neugierig durch und blieb an einem der Schreiben hängen. »Ein Labor?«, fragte er erstaunt.
Elli erinnerte sich, dass ihr Vater einmal sehr krank gewesen war. Gelbsucht. Wann war das noch? Elli überlegte, und ihr fiel ein, dass es wohl neunzehnhundertdreiundsechzig gewesen sein musste. Ja, in dem Jahr, als Kennedy dem Attentat zum Opfer fiel. Ihre Erinnerung stimmte mit dem Datum des Laborberichts überein.
»Eine Untersuchung zur Bestimmung der Blutgruppe.« Heinz reichte ihr den Brief. Angeblich hatte ihr Vater Blutgruppe AB. »Welche Blutgruppe hast du?«, fragte er.
»Null.«
Heinz schüttelte ungläubig den Kopf. »Er kann gar nicht dein Vater sein.«
Obwohl der Biologieunterricht in der Schule schon einige Zeit her war, konnte sich Elli an die Gesetzmäßigkeiten beim Vererben der Blutgruppen erinnern. Eltern mit AB ergaben Kinder mit A, AB oder B. Doro hatte ebenfalls Blutgruppe null. Sie konnte also definitiv auch nicht die Tochter von Gustav sein.
»Meinst du, er hat es gewusst?« Elli beschäftigte die Frage mit einem Mal noch mehr als der Umstand, dass sie vielleicht auch Alessandros Tochter war.
Heinz überlegte kurz und nickte. »So etwas überliest man nicht.«
»Warum hat er sich dann nicht von unserer Mutter getrennt?«
»Überleg mal, die Sechziger! Das wäre eine Katastrophe gewesen. Ich bin mir sicher, dass er es wusste.«
»Er hat sich jedenfalls nichts anmerken lassen, wobei ich das im Nachhinein nicht mehr so genau sagen kann. Ich war ja noch ein Kind. Wobei... warte mal... 1964. Das war das einzige Jahr, in dem wir nicht auf Capri waren, und ein Jahr darauf ist unser Vater gestorben.«
»Dann hat er es ganz sicher gewusst. Klar, wenn ich wüsste, dass meine Frau Kinder von einem Italiener hat, dann würde ich auch nicht mehr nach Capri fahren. Und danach?«
»Doro und ich waren in den folgenden Jahren in einem Internat. Unsere Mutter ist immer außerhalb der Ferien nach Italien gefahren. Allein.«
»Wenn du mich fragst, eindeutiger geht es ja nicht mehr.« Damit hatte Heinz wohl recht.
Von einem Markt kann man hier beim besten Willen nicht reden, dachte Anja. Fabrizio hatte mit seinem Panda in einer kleinen Seitenstraße gehalten, in der sich mehrere Lebensmittelgeschäfte und dazwischen kleine Handwerksbetriebe befanden. Ein Schneider, der seine Nähmaschine zur Straße hin aufgebaut hatte, ein Schuhmacher und einige Weinhandlungen. Von Touristen war weit und breit nichts zu sehen. Ganze Stiegen voll mit Tomaten, Gurken, Salat und allerlei Südfrüchten. Zwischen den Regalen hingen Strohhüte und sogar ein Bademantel, der zum Verkauf stand.
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