Elli gibt den Loeffel ab
sich der leicht süßliche Biergeruch schon in die Polster gefressen hatte, war der einzigartige Sternenhimmel, der sich ihr am Firmament in seiner vollen Pracht darbot, einfach zu verlockend, um drinnen zu nächtigen. Vielleicht wollte sie dem Zelt auch nur eine zweite Chance geben, etwas nachholen, sich wieder fühlen wie mit dreizehn oder einfach nur die frische Luft genießen. Dank des Moskitonetzes, das Heinz über dem Eingang des Zeltes angebracht hatte, hatte sie sogar vor den lästigen Blutsaugern Ruhe. Eine Wasserflasche und eine Taschenlampe hatte er ihr auch noch dagelassen — für alle Fälle.
»Gute Nacht, schlafen Sie gut.«
Das klang seltsam vertraut. Wann hatte ihr das letzte Mal jemand kurz vor dem Einschlafen eine gute Nacht gewünscht?
Rückblickend fand sie den Tag überraschend schön. Vielleicht sollte sie ihn festhalten. Wollte sie wirklich ausgerechnet heute mit dem Tagebuchschreiben anfangen? Zu müde war sie nicht — und hatte es nicht etwas pubertär Romantisches, mit einer Taschenlampe nachts in einem Zelt herumzufuchteln? Elli zog die Tüte des Tankstellen-Shops aus der Tasche und packte das Notizbuch mit den edlen Pfauen aus. Der Einband fühlte sich gut an, das Papier war nicht zu glatt und nicht zu rau — einfach perfekt. Es lud förmlich dazu ein, etwas darauf zu notieren.
Sie legte die Taschenlampe so auf ihre Handtasche, dass die leeren Seiten gut ausgeleuchtet waren. Eine leere Seite! Sofort stieg ein ungutes Gefühl in ihr auf- die Erinnerung an ihre Schreibblockade, die unmittelbar nach dem Treffen mit dem Lektor eingesetzt hatte. Die Seiten schienen ihr auf einmal sagen zu wollen, dass ihr sowieso nichts Vernünftiges einfallen würde. »Elli, reiß dich zusammen!«, ermahnte sie sich; es war schließlich nur ein Tagebuch. Doch wie wollte sie es gestalten? Wo anfangen? Mit der Abfahrt? War es überhaupt sinnvoll, die Ereignisse chronologisch niederzuschreiben? Für wen? Außerdem müsste sie dann ständig am Ball bleiben und die Ereignisse eines jeden Tages festhalten, was unglaublich stressig werden konnte.
Als sie den Kugelschreiber aus dem Seitenfach der Tasche zog und in die Hand nahm, stellte sie fest, dass sie leicht zu zittern begann. Was für eine Angst vor dem ersten Wort, dem ersten Satz. Elli legte den Stift wieder zur Seite und lauschte für eine Weile dem entspannenden Zirpen der Grillen, das die Nacht erfüllte. Trotzige Wut stieg in ihr auf, Wut auf den Lektor. Auf sie selbst. Sie beschloss, einfach das auf zuschreiben, was ihr rückblickend auf den heutigen Tag als Erstes in den Sinn kam — egal ob gut oder schlecht. Wen kümmerte es schon?
Knackiger Hintern. Richtige Muckis. Behaarte Brust. Durch und durch männlich. Ich muss verrückt sein, die Situation so schamlos auszunutzen. Er hat die Augen zu, und ich schaue ihm fast sein bestes Teil ab. Steht einfach so ungeniert vor mir. Völlig unverkrampft. Und wie peinlich ich mit dem Handtuch herumgefuchtelt habe. Er hat mich gesehen, splitternackt. Kann ein Mann mich überhaupt noch anziehend finden? Warum frage ich mich das? Bin ich etwa auf Sex aus? Ich weiß bestimmt sowieso nicht mehr, wie das geht. Das letzte Mal war mit Josef. Morgengymnastik. Heinz ist bestimmt ein guter Liebhaber... Wie ist das überhaupt bei Männern in seinem Alter? Verdammt, ich hatte schon so lange keinen Sex mehr! Wonach schmeckt ein Kuss eigentlich? Ich kann mich nicht einmal mehr daran erinnern, wie es sich anfühlt, wenn sich die Lippen zweier Menschen berühren. Heinz hat raue Lippen. Wie es sich wohl anfühlt, sie zu küssen? Und wie mag es sich anfühlen, wenn einen kräftige Hände zärtlich streicheln? Er hat etwas von Robert Redford. Das Grobe, aber auch das verdeckt Fürsorgliche. Elli, reiß dich zusammen, du bist sechzig. Ab einem gewissen Alter gibt es guten Sex nur noch im Kino. Heinz würde jetzt wohl wieder sein Veto einlegen. »Wer sagt das?« Ich beneide ihn um seine Freiheit.
Kapitel 4
Ein Winseln, dann ein Kläffen. Leider hatte der lebende Wecker keine Schlummertaste. Unnachgiebig wuselte der kleine, hektische cremefarbene Fleck vor Ellis Zelt herum und riss sie mit seinem Gebell aus dem süßen Sumpf ihrer Träume. Sie musste sich für einen Moment fangen. Bis eben saß sie noch mit Heinz beim Candle-Light-Dinner. Hummer hatte er ihr serviert und den besten Champagner, sogar einen dunklen Anzug hatte er für sie angezogen. Verrückt und umso kurioser, weil sich Elli gar nicht mehr daran erinnern
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